Nr. 250 (2019)

Die Akten des Häresie-Verfahrens gegen den Augustinermönch Stephan Agricola 1522–1524 und die Korrektur des Staupitz-Bildes

Nr. 250 (2019)

Von Matthias Benad

Besprechung zu: Lothar Graf zu Dohna, Richard Wetzel, Staupitz, theologischer Lehrer Luthers. Neue Quellen bleibende Erkenntnisse, Tübingen, Mohr Siebeck (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation [SMHR] Bd. 105) 2018, 392 S

Zusammenfassung: Um dem neuen Forschungsstand zu Luthers geistlichem Mentor im Augustinerorden endlich zum Durchbruch zu verhelfen, edieren Dohna und Wetzel u. a. Akten aus dem Häresie-Verfahren des Erzbischofs von Salzburg gegen den Augustiner Agricola. Staupitz, der ein Gutachten lieferte, hat sich keineswegs von der lutherischen Bewegung distanziert. Er blieb seiner frühreformatorischen Theologie treu und vermied eine Verurteilung. Agricola musste keineswegs fliehen, er wurde freigelassen. Während andernorts schon Scheiterhaufen brannten, hatten Reformkatholiken hier noch Platz in der abendländischen Kirche.

Das vorliegende Buch ist das Ergebnis von Jahrzehnten gemeinsamer, produktiver Forschungs- und Editionstätigkeit der beiden Herausgeber und Autoren. Es beleuchtet ein Stück historischer und theologischer Forschungsgeschichte und gewährt zugleich bemerkenswerte Einblicke in den Wissenschaftsbetrieb. Dem Titel ist nicht zu entnehmen, welche Rolle die weitgehende Rekonstruktion des Verfahrens gegen Stephan Agricola (ca. 1491–1547) dabei spielt, die Glie-derung deutet es an.

Das Staupitz-Editionsprojekt
Den Auftrag zur Herausgabe Sämtlicher Schriften von Johann von Staupitz (ca. 1465–1524), dem Beichtvater, Ordenslehrer und Vorgänger Martin Luthers als Professor in Wittenberg, übernahmen die beiden Forscher vor weit mehr als 40 Jahren als Mitarbeiter in dem von Heiko A. Oberman geleiteten Tübinger Sonderforschungsbereich (SFB) Spätmittelalter und Reformation. Lothar Graf zu Dohna wurde Projektleiter der Staupitz-Edition, Richard Wetzel wissen-schaftlicher Mitarbeiter. Das Vorhaben war allein schon durch Luthers Aussage in den Tisch-reden begründet, er habe bei seinem geistlichen Mentor zentrale theologische Erkenntnis gewonnen: „ex Erasmo nihil habeo. Ich hab all mein ding von Doctor Staupiz; der hatt mir occa-sionem geben“ (WA. TR. I, Nr. 173, 1532). Wetzel weist darauf hin, dass der Reformator hier mit rhetorischer Übertreibung in uneigentlicher Rede spricht, weshalb umso mehr die Frage zu stellen sei: „… was hat denn nun Luther von Staupitz“ (192)? Zur Beantwortung der Frage werden mit der kritischen Ausgabe Sämtlicher Schriften verlässliche Grundlagen gelegt.
Die Staupitz-Gesamtausgabe ist aber noch Fragment. Geplant waren sieben Bände, da-runter ein Registerband. Drei liegen vor: Zuerst erschien 1979 der zweite Teil der Lateinischen Schriften (JvS 2 = Spätmittelalter und Reformation [SuR] 14), 1987 folgte deren erster Teil (JvS 1 = SuR 13), 2001 kam der Band mit Gutachten und Satzungen (JvS 5 = SuR 17) hinzu. Aus zwei weiteren, für die deutschen Schriften vorgesehenen Bänden wurden vorab die wichtigen Salzburger Predigten veröffentlicht, eine englische Übersetzung schloss sich an. „Die übrigen deutschen Texte liegen seit der Auflösung des SFBs (1984) unverändert in den ver-schiedensten Stadien der Erfassung und Bearbeitung vor.“ Für den sechsten Band mit Briefen und anderen Zeugnissen wünschen sich die Herausgeber wegen des anhaltenden Materialzu-wachses bald eine neue Zusammenschau. Diesbezügliche Bemühungen Wetzels von 2013 sind inzwischen bereits wieder überholt (329 f.).

Staupitz‘ letzte Jahre (1520–1524)
Band 105 SMHR gehört nicht zur Gesamtausgabe. Die Herausgeber wollen vielmehr der von ihnen eingeleiteten Neuakzentuierung des Staupitz-Bildes einen nicht länger übergehbaren Impuls geben. Im Zentrum des Interesses dabei stehen die Salzburger Jahre bis zu Staupitz Tod am 28. Dezember 1524. Lange hieß es, er habe sich in dieser Lebensphase vollkommen von der lutherischen Bewegung distanziert (z.B. Lexikon für Theologie und Kirche, 2. Auflage, 9, 1026).
1520 hatte Staupitz seine Ordensämter aufgegeben und war dauerhaft nach Salzburg übergesiedelt, wohin er schon länger enge Kontakte pflegte. Dem 1519 verstorbenen Erzbischof Leonhard von Keutschach (im Amt seit 1495) war er spätestens seit 1510 freundschaftlich ver-bunden gewesen. Unter dessen Nachfolger Matthäus Kardinal Lang (1462–1540, 1511/12 Kar-dinal, Erzbischof ab 1519) trat Staupitz mit päpstlicher Genehmigung zu den Benediktinern über, wurde Abt von St. Peter hoch über der Stadt und Mitglied des erzbischöflichen Rates (3). Das rief in Wittenberg Befremden hervor, beeinträchtigte aber nicht die innere Verbundenheit und gegenseitige Wertschätzung von Staupitz und Luther.

Aufbau und Inhalt
Der Untertitel des Buches signalisiert, dass die Salzburger Jahre auf zweierlei Weise beleuchtet werden:
● Zum einen werden weitgehend unveröffentlichte Quellen zum Häresie-Verfahren gegen den Augustinereremiten Stephan Agricola ediert (21–122), in dem ein Gutachten von Staupitz die CONSULTATIO über das Bekenntnis des Bruders Stephan Agricola vom Frühjahr 1523 eine wichtige Rolle spielte.
● Zum anderen legen die beiden Forscher acht bereits veröffentliche Studien in der Reihenfolge ihrer Entstehung noch einmal vor (125–282), behutsam aktualisiert vor allem durch Anhänge zu den Anmerkungen, so dass der schrittweise Erkenntnisgewinn nachvollziehbar wird. Hinzu kommen als Originalbeiträge ein gründlicher Bericht beider Autoren über „Edition und For-schung seit 1979“ (283–330), der bis 2016 reicht, und ein kurzer Beitrag Dohnas über „Gesetz und Evangelium in Staupitz‘ frühreformatorischer Theologie“ (331–334).
Die Herausgeber haben sich zum Wiederabdruck entschlossen, weil Ihre Studien „blei-bende Erkenntnisse enthalten, aber bislang von der Forschung überwiegend nicht rezipiert wurden“, was sie höflicherweise darauf zurückführen, dass die Beiträge an „entlegenen, ja versteckten Orten“ veröffentlicht wurden (Vorwort, V).
Bei den Quellen zum Häresie-Verfahren handelt es sich um dreierlei: A) Die eigentlichen, nur lückenhaft überlieferten Akten des Verfahrens gegen besagten Agricola, darunter auch das mit CONSULTATIO überschriebene Gutachten von Staupitz, das schon 2001 in SuR 17 ediert wurde und nun abermals vorgelegt wird, versehen mit einer be-sonders lesenswerten, erweiterten Einleitung (28–35) und mit überarbeiteter Kommentierung (Dokument A 2, 36–46);
(B) Protokolle und Beilagen aus dem Rat des Fürsterzbischofs, die dieses Verfahren berühren (81–109) und
(C) die im Sommer 1523 aus der Gefangenschaft heraus im Druck veröffentlichte deutschspra-chige ANTWORT Agricolas auf die gegen ihn erhobenen Vorwürfe (111-122).

Die „unvollständigen Akten“ des „unvollendeten Häresie-Verfahrens“ (18, Dohna) ge-gen Agricola waren von der älteren Staupitz-Forschung bis in die 1890er Jahre (Dissertation Datterer [1890], Hauthaler [1896]) benutzt und in Auszügen auch publiziert worden, galten dann aber jahrzehntelang als verschollen. Dass sie im Zuge der Arbeit an der Gesamtausgabe wiedergefunden und inzwischen auch gründlich ausgewertet werden konnten, führt zur Kor-rektur einiger gravierender Forschungsirrtümer. Die genauere Kenntnis der Umstände und des Verfahrensverlaufs lässt es nämlich jetzt zu, das Staupitz-Gutachten in seinem lange Zeit miss-verstandenen Kontext zu interpretieren.
Der Abt von St. Peter distanzierte sich nämlich keineswegs von der lutherischen Bewe-gung. Es gab auch nie ein zweites, schärferes Gutachten zu den Vorwürfen gegen Agricola, und schon gar keines von Staupitz. Auch entzog sich der beschuldigte Agricola nicht etwa durch Flucht einer Verurteilung, wie seit der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts immer wieder behauptet, sondern wurde vom Erzbischof freigelassen, nachdem er Reue gezeigt, Urfehde geschworen und ein Predigtverbot auferlegt bekommen hatte. So konnte Stephan Agricola in der Reforma-tionsgeschichte noch eine Rolle spielen: Von Mühldorf ging er als freier Mann wohl zunächst nach Sachsen (17), später wirkte er als lutherischer Theologe in Augsburg, danach in Hof, in Sulzbach und zuletzt in Eisleben. 1529 nahm er an Luthers Seite am Marburger Religionsge-spräch teil, 1537 gehörte er zu den Unterzeichnern der Schmalkaldischen Artikel.

Das Verfahren und die jüngere Staupitz-Forschung
Es lohnt, sich als Leser die mittlerweile gut erkennbaren Schritte des zweieinhalbjährigen Ver-fahrens deutlich vor Augen zu stellen. Das ist anhand von Dohnas „Gesamt-Einleitung“ (1–18) und der schon erwähnten Einleitung zur CONSULTATIO (28–35) gut möglich. Nimmt der Leser bei dieser Gelegenheit beiläufig die Verzögerungen in der Fachwelt bei der Rezeption neuer Ergebnisse und die z.B. in Lexika eingegangenen Irrtümer zum Agricola-Verfahren zur Kenntnis (vgl. 1 f., Anm. 3 und 5), ist er vorbereitet auf den ausführlichen Bericht über „Edition und Forschung seit 1979“ bis 2016 (282–330). Die beiden Autoren stellen darin mit stets res-pektvoll abwägenden Referaten über Forschungszugänge, Methoden und Ergebnisse die Beiträge zu Staupitz-Forschung vor, sparen aber auch nicht mit deutlicher Kritik, wo sie diese für angebracht halten. Mag sein, dass manche ihrer Ausführungen nicht unwidersprochen bleiben werden. Durch die hier und an anderen Stellen vorgelegten Quellen haben sie sich aber bestens überprüfbar gemacht.
Dohnas abschließender Kurzbeitrag zu Gesetz und Evangelium in Staupitz‘ Theologie verdeutlicht noch einmal die Relevanz der in diesem Band verhandelten Inhalte.

Voraussetzungen und erste Schritte
Schauen wir die Vorgänge genauer an: Stephan Kastenpaur alias Argicola war um 1491 im niederbayrischen Albensberg geboren worden und nach Ordenseintritt, Universitätsausbildung und Promotion Lektor im Regensburger Konvent der Augustinereremiten gewesen, mit Predigttätigkeit in der Reichsstadt und in Passau, bevor er nach Tirol ging. Zur Zeit seiner Verhaftung im Herbst 1522 gehörte er zum Augustinereremitenkonvent in Rattenberg am Inn, für den er als Prior vorgesehen war. Wegen Aufsehen erregender Predigten u.a. in Hall in Tirol, Innsbruck und Schwaz wurde er auf Veranlassung des Erzherzogs Ferdinand von Tirol unter dem Verdacht lutherischer Irrlehre festgesetzt.

Da die Untersuchung der Angelegenheit Aufgabe der geistlichen Rechtsprechung war, die dem für Rattenberg zuständigen Erzbischof von Salzburg oblag, wurde Agricola vom Landesherrn am 10./11. März 1523 per Schiff in die innabwärts gelegene, salzburgische Enklave Mühlberg überstellt, wo der Beschuldigte zunächst im Rathaus in Gewahrsam kam. Offensichtlich handelte sich nicht um strenge Haft, denn er konnte Besuch empfangen, der ihn bisweilen in seiner Widerständigkeit gegenüber den Beamten des Erzbischofs bestärkte (12, 14). Auch hatte er die Möglichkeit, Manuskripte in Druck zu geben. Einige Zeit nachdem er im August 1523 in Augsburg seine ANTWORT auf die gegen ihn erhobenen Vorwürfe (C 1, 111–122) im Druck erschienen waren, wurde er im erzbischöflichen Pfleghof von Mühldorf eingesperrt.

Doppelstrategie
Zu Beginn seiner Haft in Mühldorf wandte sich Agricola Ende März/Anfang April 1523 mit einer Bittschrift, die seiner Entlastung dienen sollte der SUPPLICATIO , an den Erzbischof (A 1, 21–27). Der entschloss sich in Abstimmung mit seinen Räten zu einer Doppelstrategie. Er ließ dem Gefangenen deutlich machen, dass unter strikter Anwendung des Kirchenrechts ein Verfahren wegen Irrlehre gegen ihn bevorstand (via rigoris oder rigorosa), sorgte aber zugleich dafür, dass ihm auch die Möglichkeit eines milderen Vorgehens (via lenior oder via benigna) eröffnet wurde, unterhalb der Schwelle eines regulären Ketzerprozesses. Voraussetzung für den milderen Weg war, dass Agricola Bereitschaft zeigte, sich belehren zu lassen, was er in der SUPPLICATIO schon angedeutet hatte. Es sollte außerdem Reue über begangene Fehler zeigen und durch einen Eid abschwören (6).
Ort eines regulären Prozesses um Sinne der via rigoris, aber auch einer Abschwörung gemäß der via lenior hätte Salzburg als Sitz des Erzbischofs sein müssen. Zu einer Überführung des Beschuldigten aus der Enklave Mühldorf am Inn kam es jedoch nicht, weil dazu die Hilfe des weltlichen Arms in Gestalt des Herzogs von Bayern erforderlich gewesen wäre, zu dem die Beziehungen gespannt waren. Im Rat des Erzbischofs wurde befürchtet, der Herzog werde das erforderliche Geleit dazu nutzen, seine territorialen Ansprüche gegenüber dem Erzstift zur Geltung zu bringen.
Um ein reguläres Verfahren beginnen zu können, wurde der „Mühlberger Mönch“ Ende April/Anfang Mai 1523 in Anwesenheit von Zeugen und im Beisein eines protokollfüh-renden Notars unter Eid verhört. Zur gleichen Zeit ernannte der Erzbischof einen seiner Beamten zum Fiskal, der anders als bei Prozessen von Inquisitoren aus den Bettelorden in bischöflichen Verfahren nötig war, um die weiteren Verfahrensschritte im Namen des Ortsbischofs zu leiten. Eigentlich war schon im Herbst 1522 beschlossen worden, in der Luthersache für das Erzbistum Salzburg einen solchen Beamten einzusetzen, was aber bisher noch nicht geschehen war.
Auf Grundlage des Verhörprotokolls, das nicht überliefert ist, formulierte der juristische Rat Dr. Eberhard Englmar Artikel gegen Agricola [ARTICULI], die dem Beschuldigten mutmaßlich im Mai 1523 vorgelegt wurden. Sie sind aber ebenso wenig überliefert wie dessen Antworten [die RESPONSIONES] (9). Noch 1997 wurde allerdings in der Forschung die Auffassung vertreten (Sallaberger, 9, Anm. 51), die Articuli lägen in Gestalt der INTERROGATORIA (Text A 4, 52–57) vor, was vielleicht auf ein unzureichendes Verständnis der Verfahrensabläufe zurückzuführen ist. Die Inhalte der Articuli und der Responsiones können aber aus dem von Staupitz‘ im Frühjahr 1523 verfassten Gutachten, der CONSULTATIO, näherungs-weise erschlossen werden. Auch Agricolas gedruckte Flugschrift ANTWORT vom Sommer 1523 lässt Rückschlüsse auf die beiden Texte zu.

Staupitz‘ CONSULTATIO und der mildere Weg
Staupitz‘ Gutachten entstand, weil Agricola wiederholt erklärt hatte, dass er sich belehren lassen wolle, wenn ihm aus der Schrift nachgewiesen werde, dass er irre. Obwohl er (wie Luther in Worms) die Bereitschaft, sich zurechtweisen zu lassen, auf Argumente aus der Bibel beschränkt hatte (30, mit Anm. 9), ließ sich der erzbischöfliche Rat soweit auf den Beschuldigten ein, dass er beschloss, den Benediktinerabt und früheren Ordensoberen der Augustinereremiten Johann von Staupitz mit dem gefangenen Mönch disputieren zu lassen (30). Einem solchen Vorhaben standen jedoch der ferne Haftort und die Vorbehalte des Rates entgegen, Agricola nach Salzburg bringen zu lassen, weshalb offensichtlich der Weg einer schriftlichen Auseinandersetzung gewählt wurde: Staupitz verfasste noch im Frühjahr 1523 anhand der ihm vorgelegten Articuli und Responsiones seine seelsorglich ausgerichtete „Consultatio super confessione fratris Stephani Agricolae“.
Während das erste protokollierte Verhör unter Eid, die Erstellung der Articuli und die Einholung der Responsiones des Agricola als vorbereitende Akte zu einem ordentlichen Häresie-Verfahren gemäß dem strengen Vorgehen anzusehen sind, lässt sich die Einbeziehung des Abts von St. Peter eher als ein Bemühen um den milderen Weg verstehen. In der CONSULTATIO ist nur je einmal davon die Rede, der Beschuldigte habe sich „irrig im Glauben“ bzw. „häretisch“ geäußert. Die fraglichen Aussagen suchte Staupitz biblisch begründet zu widerlegen. Er warf Agricola Anmaßung und Unverfrorenheit vor, er habe hitzige und unbescheidene Worte gebraucht. So hatte er etwa im Zusammenhang des Allerseelenfestes die durch bildlichen Darstellungen seit dem späten Mittelalter vielfältig geförderte Vorstellung angegriffen, Brot und Wein aus der Heiligen Messe dienten den Seelen im Fegefeuer als Nahrung. In einer seiner Predigten habe er gerufen: „Essen die selen brot, so gesegne ins [= segne uns; M.B.] der teufel“ (31)! Auch habe er Ärgernis erregt, als er eine Christusstatue, die am Himmelfahrtstag durch eine Öffnung über das Kirchengewölbe hochgezogen wurde, unter Ausspucken als „hölzernen Götzen“ bezeichnete (wozu angemerkt wird, dass das Wort „Götze“ erst in den Ausei-nandersetzungen jener Jahre seine heidnisch-negative Bedeutung gewonnen habe, vgl. 31 Anm. 16). Agricola habe sich zum Richter aufgeworfen, um dem wankelmütigen Volk zu gefallen. Ohne irgendetwas zu beschönigen, ermahnte und korrigierte Staupitz den Beschuldigten und verlangte Reue und Entschuldigung von ihm, fand aber auch Worte der Anerkennung und bezichtigte ihn nicht der Ketzerei. Bei aller Kritik enthielt sich Staupitz in der CONSULTATIO jeder abschließenden Bewertung. Außerdem ist das Staupitz–Gutachten auch danach zu beur-teilen, was darin nicht behandelt wurde (32 ff.).

Gleichzeitige Vorbereitung eines strengen Vorgehens
Gleichwohl nutzten die juristischen Räte des Erzbischofs gemäß der Doppelstrategie die CON-SULATIO, um ein reguläres Hauptverfahren im Sinne der via rigorosa vorzubereiten. Sie grif-fen für ihre Rückantwort auf Agricolas Responsiones die REPLICA procuratoris fiscalis auf Staupitz‘ Formulierungen, Gedankengänge und biblische Belege zurück und zogen Konsequenzen, die sich beim Abt von St. Peter nicht finden lassen (A 3, 47–51). Die Räte spitzten die Aussagen des seelsorglich-milden Gutachtens zu und erklärten Agricola zum Anhänger des gebannten Ketzers Luther, zum Verkünder häretischer und

Aufruhr stiftender Lehren und zum
Zerstörer der christlichen Religion, der umgehend zum Widerruf genötigt werden müsse. Bei all dem hielt der Rat des Erzbischofs an der Doppelstrategie fest: In der Sitzung vom 16. August wurde nämlich vereinbart, dem Beschuldigten die REPLICA rasch zuzustellen. Nach seiner Reaktion werde man sehen, ob der strenge oder der mildere Weg einzuschlagen sei (11).
Der weitere Umgang mit dem Beschuldigten erwies sich als schwierig, zumal Agricola sich mit seiner als deutschsprachiges Flugblatt gedruckten ANTWORT, die Mitte August 1523 vorlag, an die Öffentlichkeit gewandt hatte. Der Rat befolgte weiter die Doppelstrategie und vereinbarte am 26. August zweierlei: Zum einen sollte eine Schwurformel (forma abiurationis) verfasst werden, die man Agricola außerhalb eines regulären Prozesses (extraiudicaliter) zur „nichtöffentlichen Abschwörung des lutherischen Wesens vor Zeugen ohne Relegation“ (12, mit Anm. 66, mit Sallaberger) vorlegen wollte; zum anderen wurden zwei juristische Räte beauftragt, den für ein ordentliches Hauptverfahren erforderlichen Schriftsatz die „forma pro-cessus iudicalis“ ausarbeiten zu lassen. Die Prozessschrift bestand aus fünf gegen Agricola gerichteten Anschuldigungen wegen Ketzerei und aus einer Zusammenstellung neuer Fragen, den bereits erwähnten INTERROGATORIA specialia Fragestücken, jenem Dokument (A 4, 52–57), das 1997 irrtümlich für die Articuli gehalten wurde. Die in der Prozessschrift zusammengestellten Fragestücke sollten dazu dienen, Agricola in dem zu eröffnenden Hauptverfahren wegen Häresie wirksam zu examieren (12). Es handelte sich bei den INTERROGATORIA also um einen Teil des nächsten kirchenrechtlich erforderlichen Schrittes zur Durchführung eines förmlichen Prozesses durch den erzbischöflichen Fiskal im Sinne der via rigoris.

Verzerrung
Für das Staupitzbild im 20. Jahrhundert erwies es sich als folgenreich, dass Hauthaler 1896 die Gattung der Prozessschrift nicht erkannte, sondern die INTERROGATORIA für ein zweites Gutachten zu den Antworten [RESPONSIONES] des Agricola auf die Articuli hielt, das viel schärfer war als die milde CONSULTATIO des Johannes von Staupitz. Dieser Fehlschluss wäre vielleicht ohne größere Folgen geblieben, hätte nicht Otto Clemen zehn Jahre später Hauthalers Einschätzung missverstanden und gemeint, er habe hier ein zweites Gutachten des Abtes von St. Peter vor sich, „ein Irrtum, in dem ihm die ganze Forschung folgte, wodurch das Bild Johanns von Staupitz erheblich verzerrt wurde“ (13 mit Anm. 72, Dohna). Die von Dohna 1979 erstmals vorgetragene und 1989 weiter ausgeführte Richtigstellung dieses For-schungsirrtums wurde von erheblichen Teilen der Fachwelt ignoriert. Die im vorliegenden Band versammelten Erkenntnisse über das Häresie-Verfahren gegen Agricola erlauben es nun, diesen Irrtum gründlich zu korrigieren.

Freilassung ohne Widerruf
Agricola bekam die am 26. August 1523 im Rat besprochene Abschwörungsformel vorgelegt, hatte aber Bedenken, sie anzunehmen, weil nicht-biblische Gründe darin eine Rolle spielten. Anfang Dezember 1523 wurde er in den erzbischöflichen Pfleghof von Mühldorf verlegt, was wohl den Druck auf ihn erhöhen sollte. Dort suchte ihn Neujahr 1524 der erzbischöfliche Rat Dr. Ribeisen auf, angeblich ohne Auftrag des Fürstbischofs, dem der Rat aber nachher aus-führlich schriftlichen Bericht erstattete. Der gefangene Mönch habe ihm in einem langen Gespräch dargelegt, dass er auf den Bischof von Chiemsee (einen der Suffraganbischöfe des Erzbischofs) und den Abt von St. Peter vertraue. Wenn diese ihm anzeigten, dass er gegen die Schrift geirrt habe, wolle er widerrufen. Ribeisen schlug dem Fürstbischof vor zu überlegen, ob er den Mönch, dessen langdauernde Haft schon Strafe genug sei, nicht einen Revers als „Bekenntnis und Urfehde“ unterzeichnen und mit Predigtverbot frei lassen wolle, ohne ausdrück-lichen Widerruf. Aber auch ein ordnungsgemäßer Prozess kam weiterhin in Frage. Dazu hätte der Gefangene freilich nach Salzburg gebracht werden müssen (14 f.), wozu sich der Erzbischof und seine die Räte aber aus den bekannten Gründen nicht entschließen mochten. Der Vorschlag zur Freilassung kam vor den Rat, der vom Erzbischof ermächtigt worden war, einen Beschluss zu fassen. Richard Wetzel gelang es, das verschollene Protokoll der ent-scheidenden Sitzung vom 19. Februar 1524 aufzuspüren (B 11, 105–109). In der Beratung äu-ßerte der Rat Dr. Volland, „das Bekenntnis Agricolas sei nicht so ketzerisch, das man ihm rechtlich ans Leben gehen könnte“ (15). Nach gründlicher Besprechung wurde beschlossenen, den „Mönch von Mühldorf“ freizulassen. Das geschah aber erst Ende Mai 1524, weil Agricola zunächst mit einem Predigtverbot in der gesamten Kirchenprovinz Salzburg nicht einverstanden war. Am 6. Mai lenkte er ein und bekannte in einer schriftlichen Erklärung gegenüber dem salzburgischen Landrichter Ruprecht Hirschauer (A 12, 75; vgl. A 11, 74–76), er bereue seinen Eifer und seine anstößigen Äußerungen und bitte um Gnade. Darauf ließ man ihn Urfehde schwören (A 13, 78–80), erteilte ihm Predigtverbot und setzte ihn Ende Mai ohne förmlichen Widerruf auf freien Fuß (15 ff.). Freilich ließ sich nicht verhindern, dass er im folgenden Jahr während der Tiroler Bauernunruhen abermals in Innsbruck predigte (17).

Resümee
Damit ergibt sich über das Vorgehen gegen den „Mönch von Mühldorf“ folgendes Bild: Während in Brüssel im Sommer 1523 zwei Augustinermönche als erste Märtyrer der Reformation auf dem Scheiterhaufen endeten (13), kam das Verfahren gegen Agricola nicht über die Voruntersuchung hinaus. Das war vor allem deshalb möglich, weil unter Erzbischof Matthäus Kar-dinal Lang mehrere hoch angesehene reformkatholische Würdenträger im Rat des Erzbischofs saßen. So ließen sich Rat und Erzbischof darauf ein, in der Aussage Agricolas, er sei bereit, sich durch die Heilige Schrift belehren zu lassen, eine prinzipielle Bereitschaft zu Reue und Umkehr zu erkennen, die hinreichte, ein milderes Vorgehen in Betracht zu ziehen. Sie bestellten den als Friedensstifter bekannten, nunmehrigen Benediktinerabt Johann von Staupitz zum Ge-genüber des Beschuldigten, für den als Reformkatholik die Autorität der Bibel ebenfalls Vorrang hatte. Aus anderen Zusammenhängen lässt sich belegen, dass er in der Auffassung über das Verhältnis von Gesetz und Evangelium nicht nur mit Luther übereinstimmte, sondern vor ihm zu dieser Auffassung gelangt war und den jüngeren Ordensbruder in diesem Sinne beeinflusst hatte (324). Staupitz wich davon nicht mehr ab, er ging in seinen letzten Lebensjahren keineswegs auf Distanz zu dem Wittenberger Reformator.

Lothar Graf zu Dohna und Richard Wetzel haben vorgeführt, wie ertragreich es sein kann, die Umstände einer theologischen Gelegenheitsschrift wie der CONSULTATIO penibel zu rekonstruieren. Die von ihnen zusammengetragenen Quellen zeigen, welche Auffassungen in der Frühphase der Reformation noch Platz fanden in der allgemeinen Christenheit der west-lichen Kirche, bevor sich die umfassende mittelalterliche Ecclesia Romana in den Glaubenskämpfen des 16. Jahrhunderts zur römisch-katholischen Konfessionskirche wandelte. Noch konnte ein Mann mit den theologischen Ansichten eines Johann von Staupitz als Abt einer altehrwürdigen Benediktiner-Erzabtei unbehelligt seine irdischen Tage beschließen. Wie tief aber die Umgestaltung der folgenden Jahrzehnte reichte, zeigt sich darin, dass 60 Jahre nach seinem Tod Abt Martin von St. Peter Bücher und Briefe seines Vorgängers Johanns IV. von Staupitz dem Scheiterhaufen übergab, 25 Jahre nach der ersten römischen Indizierung dieser Schriften (132).
Die beiden Herausgeber und Autoren, die den Jahrgängen 1924 und 1936 angehören, haben mit dem vorliegenden Band der Fachwelt und allen theologisch und historisch Interessierten ein wissenschaftliches Vermächtnis übergeben. Wer sich in Zukunft mit Johann von Staupitz beschäftigen will, dem wird dieser Band unverzichtbar werden, wegen der edierten Quellen, der versammelten Einzelstudien, des souveränen Forschungs- und Editionsberichts, und schließlich auch wegen der hilfreichen Register im Anhang. Dankbarkeit ist angesagt, dass den beiden Emeriti Zeit, Kraft, Gesundheit und Ausdauer geschenkt wurden und in schwierigen Phasen auch Unterstützung da war, um diesen Band zu Ende zu führen und zu publizieren.

Der Verfasser lehrte 1992 bis 2017 neuere Kirchengeschichte an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel. Er veröffentlichte 1990 eine Studie über das Vorgehen des bischöflichen Inquisitors Jacques Fournier von Pamiers (ca. 1280–1342, ab 1334 Papst Benedikt XII.) gegen die letzten Katharer in Südfrankreich (SuR, NR Bd. 1).

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