Nr. 241 (2019)

Analyse der Sprecherdimension im Koran (1)
Die Thematik der Sündenaufladung
Hābīl und Qābīl: Wer sagt was und wer verurteilt wen?

Nr. 241 (2019)

Von Ahmet Inam

Um die Jahre 610 bekam der Prophet Muḥammad die erste Offenbarung mit einer deutlichen Ansage: Ließ! Mit diesem Imperativ begann sodann die ca. 23-Jährige Prophetie in der arabischen Halbinsel, in der der Prophet den monotheistischen Glauben verkündete. Dabei wurde Muḥammad durch die Offenbarung Gottes unterstützt, um u.a. in schwierigen Momenten die Moral des Propheten zu stärken aber auch um

den Widersachern und deren Anhängern die richtige bzw. die göttliche Botschaft zu vermitteln. Die Unterstützung geschah in erster Linie durch die Offenbarung, welche verschiedene Stilmittel in sich trägt. Hierbei wurden nicht nur direkte Anreden als rhetorische und zugleich warnende Mittel verwendet, sondern auch verschiedene erzählerische Stilmitteln wurden dabei gebraucht. Alleine durch die Erzählung der Geschichten der früheren Propheten, durch die wörtliche Zitierung ihrer Aussagen und durch die Hervorhebung ihrer individuellen und prophetischen Bestrebungen, die das Erlebte für den Zuhörer intensivieren soll, gab dem Propheten Muḥammad sicherlich Trost und das Gefühl von Zufriedenheit, wenn nicht sogar Erleichterung.

Wie die verschiedenen Stilmittel in den Literaturwissenschaften verstanden oder interpretiert werden, soll hier nicht behandelt werden. Wir möchten stattdessen auf die Existenz von verschiedenen Sprecherdimensionen im Koran aus einer theologisch und juristischen Blickwinkel hinweisen, diese prüfen und auf ihre Urteilskraft hin analysieren, die uns zum besseren Verständnis einiger koranischen Passagen und Verse eventuell verhelfen könnten.

Im Gegensatz zu dem sprachwissenschaftlichen Begriff „Erzählerperspektive“, der zum einen in Erzählungen bzw. in literarischen Werken ihre Anwendung findet und zum anderen aus den verschiedenen Perspektiven heraus keine theologischen oder juristischen Analogien anstellt, wollen wir mit dem Begriff „Sprecherdimension“ sowohl den einen Erzähler –  hier Gott – als auch die verschiedenen in den Zitaten sprechenden Personen und Wesen hervorheben und das „Gesagte“ vergleichen. Genauer gesagt, wer eigentlich in den entsprechenden Stellen im Koran konkret was sagt oder auch über etwas urteilt soll differenzierter betrachtet werden.

Die verschiedenen Sprecherdimensionen wurden m.W. wenig oder gar nicht aus einer juristischen oder theologischen Perspektive in der Form von theologischer oder juristischer Induktion aus dem Gesagten im Koran bzw. aus der Perspektive des Sprechers betrachtet. Zumindest gilt dies für die Koranexegese, wie wir unten sehen werden.

Jedes Wort im Koran gilt als Gotteswort/Offenbarung, doch nicht jedes zitierte Wort repräsentiert quasi die Forderung/Meinung/Richtigstellung Gottes. Die Worte Satans, die von Gott in seiner Offenbarung zitiert wird, können sicherlich nicht die Meinung Gottes wiedergeben. Dies gilt – wenn wir uns strikt an diese Überlegung und Regel halten – auch für alle im Koran zitierten Personen und Wesen, zumindest aber für alle erwähnten Personen im Koran, die als Ungläubige vorgestellt werden. Wenn – als ein konkretes Beispiel – die mekkanischen Ungläubigen die Geschichten im Koran als „ʼasāṭīru l-ʼawwalīn[1] also als Fabeln, Mythologie oder unwahre Geschichten bezeichnen und Gott deren Aussage lediglich zitiert und im Gegenzug diese kritisiert und selbst die Geschichten des Öfteren mit ḥaqq also „wahr, wahrhaftig“ charakterisiert, so dürfte nicht nur aus islamischer Sicht ein großes Missverständnis sein, wenn die Aussagen der Mekkaner zur Beschreibung des Korans mit hinzugefügt werden. Das Wort ḥaqq drückt nämlich unabhängig von seiner kontextbezogenen Bedeutungsvariante immer das Gegenteil von etwas Falschem, Unpassendem, einer Lüge etc. aus. Hinzu kommt, dass es für etwas steht, was nicht geleugnet werden kann.[2]

Wenn die Engel und die Propheten über die Einheit Gottes sprechen, so ist das sicherlich auch im Sinne des Islams/des Korans vereinbar. Doch nichtsdestotrotz sind die Zitate im Koran, lediglich Zitate aus dem Gesagten von erschaffenen Wesen, also nicht direkte Aussagen von Gott. Diesbezüglich stellt sich für uns nun die Frage, inwieweit die Aussagen der im Koran zitierten Personen mit den direkten Verkündigungen Gottes einvernehmlich sind. Die Frage dürfte/könnte sich bei Personen und Wesen erübrigen, die als Kontrahenten des Islams vorgestellt werden. Wie sieht es aber mit den Aussagen von gläubigen Personen und explizit der von den Propheten aus? Um hier kurz ein Beispiel zu nennen – welches detaillierter in einem anderen Artikel thematisiert werden soll – sei hier auf die Verwendung von bestimmten Sündenbegriffen der Propheten für ihre eigenen Vergehen verwiesen. Wenn Gott die Propheten direkt als Unrechttuer/Frevler (ẓālim) benannt hätte, dürften daraus (theologisch) bestimmende/determinierende und für die Propheten negative Schlussfolgerungen gezogen werden. Doch Gott bezeichnet in keinem Vers irgendeinen Propheten in dieser Form, sondern es sind stets die Propheten selbst, die sich als ẓālim bezeichneten und von Gott (lediglich) zitiert werden. Die Zitierung der Worte der Propheten – die aus einem zerknirschten Zustand aufgrund von Schuldgefühlen entstanden sein dürften – kann nicht die gleiche Bedeutungsdimension besitzen, als wenn Gott diese Propheten direkt als solche bezeichnet hätte. Die Zitate müssen desgleichen auch nicht als eine Akzeptanz des Gesagten bedeuten. Das Gegenteil dürfte hierbei eher der Fall sein, so wenn Gott an mehreren Stellen die Propheten deutlich, im Gegensatz zu dem wie die Propheten sich verurteilten, lobt. Nichtsdestotrotz wurden diese Aussagen der Propheten für die Thematik der Unfehlbarkeit (ʿiṣma) der Propheten stets hinzugezogen. Hier und in den weiteren Fällen ist der Vergleich der Koranverse unumgänglich, wenn zur gleichen Thematik direkt getroffene Aussagen von Gott im Koran befinden.

  1. Dimension

Neben den verschiedenen sprachwissenschaftlichen Dimensionen in einer Rede oder in einer Geschichte, gibt es im Koran weitere örtliche, zeitliche und überirdische Dimensionen wie z.B. die Metaphysische, die sicherlich unter dem Blickwinkel der Unterscheidung der Dimensionen ebenfalls interessant sein dürfte. So gibt es eine vor-existenzielle und/oder nicht-irdische metaphysische Dimension (z.B. der Ur-Eid; Adam und Eva im Paradies, das Gespräch der Engel und des Iblīs/Teufels vor Gott); die metaphysisch-weltliche Dimension (z.B. die Welt der Engel wie die Schreibengel, Offenbarungsengel) und Ǧinn (z.B. Sure al-Ǧinn, Geschichte Salomons) und ihre Wirkungen auf das Leben der Menschen, die Gesandten (Engel) bzw. die Besucher Abrahams, die Gespräche der Propheten mit Gott auf der Erde, so z.B. mit Moses; die „göttliche/himmlische“ Dimension (z.B. die Nacht- und Himmelfahrt, Gespräch Muḥammads mit Gott außerhalb der Erde, Sure al-ʼIsrāʼ); die „vierte“ Dimension (z.B. Diener Gottes, Ḫiḍr oder Ḫaḍir) und die jenseitige Dimension (z.B. das Jüngste Gericht, Reue und Strafe der Ungläubigen, Preisung und Lohn der Gläubigen). Ob bisher eine Untersuchung in Relation mit der Differenzierung dieser Dimensionen und derer theologischer Wirkung gemacht wurde oder inwieweit diese Dimensionen auch die islamischen Lehren beeinflusst haben, analysiert wurde, ist uns nicht bekannt. Interessant dürfte es sein zum Beispiel zu erfahren, inwieweit allen voran die Exegeten und weitere Gelehrte, die Gespräche und Handlungen in diesen Dimensionen denn auch explizit für diese Dimension gültig gesprochen haben oder daraus – für das menschliche Leben relevant angesehene und daraus assoziierte – Urteile und Lehren hervorbrachten. Wurden diese Koranverse, diese Gespräche und Zitate aus den verschiedenen Dimensionen für die theologischen Diskussionen zunutze gemacht und wenn ja, inwiefern wurde hierbei auf den Unterschied/ die Nuance zwischen den Dimensionen hingewiesen?

  1. Die Sprecherdimensionen

Im Koran kommen mehrere Wesen oder Personen durch die Zitierung Gottes zu Wort. Gott ist nicht nur der Offenbarer des Korans für die Muslime, sondern gilt auch im Zusammenhang mit den Geschichten in denen diese Wesen und Personen auftreten, quasi als alleiniger „Erzähler“. Die Geschichten der früheren Völker und der Personen – von Propheten bis hin zu den verschiedenen Sündern – bilden ein Großteil des Korans aus. Doch handelt es sich bei den Zitaten im Koran nicht nur um historische Personen oder um Geschichten von früheren Zeiten, sondern auch um Zeitzeugen der koranischen Offenbarung, die darin ebenfalls „aktuell“ zitiert werden. Entweder handelt es sich bei den letztgenannten Personen um Kontrahenten des Propheten Muḥammad oder um einige Gefährten des Propheten.

Die ganze Bandbreite dieser Dimensionen literarisch und theologisch zu analysieren, dürfte für den Rahmen eines Artikels nicht genügen. Deshalb soll serienweise anhand von verschiedenen Beispielen aufgezeigt werden, ob mit dieser Hervorhebung und Differenzierung der Sprecherdimensionen manche Passagen und Koranverse Missverständnisse ausräumen und/oder theologische und juristische Themen besser verstanden werden können.

In diesem Artikel wird es explizit darum gehen, wer genau was gesagt hat bzw. wer wen verurteilt hat! Wir wollen konkret wissen, inwieweit die Exegeten eine von Gott zitierte Aussage von Hābīl, die er gegenüber seinen Bruder Qābīl machte, als die Aussage bzw. Urteil Hābīls selbst betrachtet haben oder sie daraus eine theologische Meinung bzw. auch Urteil – somit quasi auch als Gottesurteil – formulierten.? Für diese Analyse werden die Interpretationen von einigen klassischen und zeitgenössischen Exegeten näher untersucht.

  1. Hābīl und Qābīl

Die Geschichte der Söhne Adams (ibnay ādama) wird in der Sure 5:27-31 erzählt.[3] In der muslimischen Geschichte als Hābīl (Abel) und Qābīl (Kain) bekannt, tötet Qābīl diesen Versen zufolge aus Neid seinen Bruder Hābīl, da Gott Hābīls Opfergabe akzeptierte und seins nicht.

Als Qābīl aus Neid seinem Bruder mitteilt, dass er ihn töten wolle, entgegnet Hābīl ihm mit den folgenden Worten: „Ich möchte, daß du meine und deine Sünde (bi-ʼiṯmī wa-ʼiṯmika) auf dich lädst (oder: (durch Bestrafung) sühnst) und so einer von den Insassen des Höllenfeuers sein wirst. Das ist der Lohn der Frevler.“ Während Hābīl mit diesen Versen als Vorbild für die Muslime und für die Gottesehrfurcht (taqwā) des Öfteren präsentiert wird, so gilt Qābīl als das Gegenpart, ja in Relation und Anlehnung an den Neid und Hass des Satans, als das menschlich schlechte Beispiel.

Was aber explizit das Gesagte über die Aufladung der Sünde betrifft, so kollidiert diese Aussage von Hābīl mit einem Koranvers (s. unten) und mit einem der wichtigsten Lehren und Fragen in der islamischen Theologie. Nämlich der Frage, ob jemand seine Sünden auf jemand anderen auftragen bzw. ob jemand die Sünden anderer auf sich nehmen kann? Zu diesem Thema wird insbesondere diese Geschichte herangezogen und beschäftigt die muslimischen Gelehrten bis heute.

  1. Die Interpretationen/Auslegungen der Koranexegeten

Muqātil b. Sulaymān (gest.767)

Der zu den frühesten Koranexegeten geltende Muqātil gibt lediglich die Geschichte mit weiteren Details – wohl aus Überlieferungen oder Erzählungen – wieder und befasst sich nicht mit der Frage, ob eine Sünde aufgeladen bzw. übertragen werden kann. In dieser Geschichte Muqātils wird Qābīl, wieder aus dem Munde Hābīls, als der erste Höllenbewohner und Hābīl als der erste Märtyrer vorgestellt.[4] Da keine weiteren Angaben und Interpretationen von Muqātil selbst vorzufinden sind, dürfte diese Geschichte auch Muqātils Meinung wiedergeben. Von einer Sündenaufladung ist auch in der von ihm angegebenen Überlieferung nichts zu finden.[5]

Aṭ-Ṭabarī (gest. 923)

In seiner bekannten Koranexegese legt aṭ-Ṭabarī persönlich die Sündenaufladung in der Form aus, dass mit der Aussage „meiner Sünde“ im besagten Vers, lediglich „mit der Sünde des Tötens meiner Person“ gemeint sei. Diese Interpretation basiert zugleich auf bekannte Frühexegeten, die er zitiert. Doch gab es wohl zu seiner Zeit auch die Meinung, die von einer wortwörtlich gemeinten Aufladung der Sünde (und des Blutes, dammi[6]) auf den Mörder sprach, zumal aṭ-Ṭabarī diese ebenfalls zitiert. Diese letztgenannten Aussagen oder Interpretationen lehnen sich wiederum an eine Aussage von Muǧāhid an, die aber von aṭ-Ṭabarī (und weiteren Exegeten wie Ibn Kaṯīr) als ġalat (Verweis auf die Unwissenheit oder Vergessenheit des Überlieferers[7]) bewertet und somit abgelehnt wird.[8] Eine Unterscheidung der Sprecherdimensionen ist nicht vorhanden.

Abū Manṣūr al-Māturīdī (gest. 941)

Al-Māturīdī, der mehr als der Gründer der sunnitisch-theologischen Schule der Māturīdiyya bekannt ist, schrieb ebenfalls ein exegetisches Werk, was uns in gewisser Hinsicht einen theologisch (Kalām) exegetischen Blick zu diesem Thema verschafft. Neben der Auslegung, dass es sich bei den beiden Adamssöhnen nicht unbedingt um die ersten beiden Söhne Adams handeln müsse und die Personalie eigentlich nicht so wichtig sei, führt er zwei Auslegungen bezüglich der Übertragung der Sünde an: Die erste Auslegung nimmt das Sachverhalt wörtlich auf und spricht von einer Übertragung der eigenen Sünden auf den Mörder. Die zweite Auslegung relativiert diese Lesart und verweist – so auch aṭ-Ṭabarī zuvor – auf die Meinung von Ḥasan al-Baṣrī, der hierbei den Teil „meine Sünden“ mit „die Sünde durch die Tötung meiner Person“ und den Teil „deine Sünden“ mit dem Unglauben des Mörders interpretierte. An dieser Stelle sei allerdings darauf hingewiesen, dass Ḥasan al-Baṣrī der Gelehrte ist, auf den sich al-Māturīdī in Hinblick auf die Personalie der beiden bezieht und Ḥasan al-Baṣrī betrachtet diese beiden als zwei Israeliten und nicht als die direkten Söhne Adams.[9]

Die erste Auslegung relativiert al-Māturīdī mit einer weiteren Erklärung, nämlich, dass der Mensch in gewissen Situationen vorgibt etwas zu tun, was er aber nicht wirklich realisieren würde. So wenn jemand in einem gewissen – wohl emotionalen – Zustand sagen würde: „ich werfe mich vom Dach“, aber es nicht wirklich so meint und es auch nicht wirklich tun würde. Zudem findet al-Māturīdī es für normal, dass jemand quasi den Wunsch äußern kann oder darf, dass sein Mörder mit der Ermordung seiner Person zugleich die eigenen Sünden auf sich nimmt. Ob dieser Wunsch als eine theologische Lehre als richtig zu betrachten ist oder sich dieser Wunsch seiner Meinung nach verwirkliche, dazu macht er keine Aussagen. Interessant zugleich ist bei al-Māturīdī – dies wird im weiteren Verlauf noch ein Thema sein -, dass er die Überlieferungen bezüglich zwei muslimischen Parteien (oder Personen), die sich gegenseitig bekämpfen und töten wollen, nicht ohne einen Verweis auf die Geschichte interpretiert. Nach dieser Überlieferung sind nämlich beide Parteien oder Personen Höllenbewohner, zumal beide Seiten die Absicht besaßen den Gegenüber zu töten. Al-Māturīdī erinnert an dieser Stelle an die Schlacht vom Kalifen ʿAlī gegen die Ḫāriǧīten und sagt, dass im Falle eines gerechten Herrschers/Kalifen der Gläubige an der Seite des Kalifen sich gegen den Aufrührer wehren muss und diesen auch in Notwehr töten darf.[10]

Durch die Auslegung al-Māturīdīs bezüglich der menschlichen Wunsch-Erklärung verweist er eigentlich auf die menschliche (und eben nicht „göttliche“) Dimension, geht aber leider nicht näher darauf ein und zugleich findet sich bei ihm kein Vergleich von Koranversen und den Sprechern zu diesem Thema.

Abū al-Qāsim az-Zamaḫšarī (gest. 1144)

Der muʿtazilītische Exeget az-Zamaḫšarī interpretiert die Aufladung der Sünde im Sinne von „dessen, was ich wegen dir getan hätte.“ Im konkreten Fall würde es heißen, dass Qābīl die von Hābīl nicht begangene Sünde – erst Widersetzung und dadurch eventuell auch Tötung – auf sich geladen hat. Er lehnt sich dabei an eine Überlieferung über das Beleidigen an. Diese besagt: Solange zwei Personen sich gegenseitig beleidigen und dabei das Opfer lediglich im gleichen Rahmen (im Sinne von Selbstverteidigung) sich widersetzt und nicht übertreibt, gilt die Sünde der Beleidigung demjenigen, der damit angefangen hat. Somit würde die Person auch die Sünde des Anderen auf sich nehmen, wenn er die andere Person zu der gleichen Sünde aufgestachelt hat bzw. die Verfehlung des Opfers wäre erst gar nicht als Sünde vermerkt, da er sich im erlaubten Rahmen widersetzt hat. Erst wenn das Opfer nicht im gleichen Rahmen gehandelt, sondern übertrieben hätte, wäre auch er mit einer Sünde belastet. Entsprechend ist die Auslegung az-Zamaḫšarī mehr auf den Faktor der Verführung zu einer Sünde gelegt und Qābīl hätte die Sünde von Hābīl auf sich genommen, wenn Hābīl sich widersetzt und dabei eventuell Qābīl getötet hätte. Auch diese Form der Aufladung wird durch ihn relativiert, zum einen mit dem Verweis auf den Koranvers 17:15, wonach niemand die Sünde eines anderen auf sich nehmen kann und durch den Verweis, dass es sich hierbei mehr um eine Erklärungsweise mit einer großen Brandbreite (‛ittasā‛a) handelt. Durch den Verweis auf den Koranvers 17:15 stellt er zwar einen Vergleich an, ein Vergleich oder eine Andeutung auf die verschiedenen Sprecherdimensionen jedoch, in Anlehnung der beiden thematisch wichtigen Verse 5:29 und 17:15, ist hier ebenfalls nicht vorhanden.[11]

Abū al-Faraǧ b. al-Ǧawzī (gest. 1201)

In seinem kurz und bündig verfassten Tafsīr-Werk geht der hanbalitische Gelehrte al-Ǧawzī auf dieses Thema ebenfalls kurz ein. Bezüglich der Aufladung der Sünde erwähnt er die zwei bei aṭ-Ṭabarī genannten Varianten. Die zweite wortwörtlich interpretierte Meinung von Muǧāhid, die er nicht als ġalat vermerkt, ist für ihn zugleich die Richtige. Dies geschieht in Anlehnung an eine Überlieferung bezüglich des ersten Blutvergießens. Gemäß dieser Überlieferung soll Qābīl durch jeden Mord eines Menschen in der Menschheitsgeschichte vom Blut (min damihā, hier: Mitschuld) des Opfers auf sich laden, weil er der Urheber dieser Sünde ist.[12]

Auf die Frage, wieso ein Gläubiger einem Gläubigen die Schuld/Sünde auftragen möchte, wo doch der Gläubige seinem Bruder das Gleiche wünschen soll, was er für sich erwünscht, werden u.a. folgende Argumente erwähnt: Hābīl wollte nicht (mā ʼarāda), dass sein Bruder Qābīl ein Fehler (ḫatīʼa) begeht. Er wollte lediglich als eine Art Warnung sagen „Doch wenn du mich tötest, so wirst du auch meine Sünden auf dich nehmen.“ Das zweite Argument ist ähnlich in Form einer Warnung gedacht: „Ich möchte (eigentlich nicht), dass du meine und deine Sünden auf dich lädst.“ In beiden Erklärungen ist das Aufbürden der eigenen Sünden auf jemand anderen oder anders herum deutlich vorhanden, wenn auch als Wunsch. Allerdings wird diese Wunsch-Auslegung im Gegensatz zu al-Māturīdī bei al-Ǧawzī zu einer theologischen Lehre.

Hier haben wir eine wortwörtlich gelesene Interpretation dieses Verses, die sich zugleich auf eine (oder mehrere) Überlieferung stützt. Die verschiedenen Dimensionen werden nicht erwähnt bzw. differenziert.[13]

Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī (gest. 1209)

Ar-Rāzī konkretisiert diese Thematik und fragt, wie zuvor az-Zamaḫšarī, wie man sich (überhaupt) vorstellen könne, dass der Mörder die Sünden seines Opfers auf sich nehmen würde, wenn doch Gott in einem weiteren Vers (17:15) offenbarte: „Wenn sich einer rechtleiten läßt, tut er das zu seinem eigenen Vorteil, und wenn einer irregeht, zu seinem eigenen Nachteil. Und keiner wird die Last eines anderen tragen.“ Gestützt auf die nicht als ġalat bekannten Aussagen früherer Autoritäten wie Ibn ‛Abbās, Ibn Mas‛ūd und Ḥasan al-Baṣrī – auf die schon die bisherigen Exegeten sich stützten und des Weiteren auch (fast) alle Exegeten es nach ihm tun – ist ar-Rāzī der Ansicht, dass mit „meiner Sünde“ lediglich der Akt des Tötens und somit die Sünde „des Tötens meiner Person“ gemeint sei. Den zweiten Teil der Aussage Hābīls, nämlich „Ich möchte, daß du […] so einer von den Insassen des Höllenfeuers sein wirst. Das ist der Lohn der Frevler“, interpretiert ar-Rāzī ebenfalls als eine Art Warnung und nicht als ein Urteil über das Schicksal seines Bruders. „Wenn du mich tötest, so könntest/wirst du mit dieser Sünde zu den Höllenbewohnern gehören“ ist die folgerichtige Botschaft Hābīls.[14] Eine Aufladung der Sünden auf den Mörder wird somit strikt abgelehnt. Auch hier wird die Aussage Hābīls mit der direkten Aussage Gottes als unterschiedliche Dimensionen nicht wahrgenommen.

 Al-Qurṭubī (gest. 1272)

Der andalusische Gelehrte und Exeget al-Qurṭubī argumentiert ähnlich wie al-Ǧawzī. Noch ausführlicher als al-Ǧawzī versucht er die Aussage Hābīls mit weiteren Koranversen und insbesondere Überlieferungen als eine wortgetreue Lehre zu belegen. Er führt eine  Überlieferung an, in der dem Unrechttuer (ẓālim) im Jenseits die Sünden des Unrechterleidenden auferlegt wird, sofern der Unrechttuer keine guten Werke mehr besitzt, die auf den Unrechterleidenden als Wiedergutmachung/Sühne[15] (kaffāra) übergeben werden können.[16] Al-Qurṭubī will mit dieser Überlieferung und der darin enthaltenen Thematik der Übertragung der Sünden (und zugleich der Guten Werke auf den Unrechterleidenden (maẓlūm) auf die Übertragung selbst verweisen, dass dies also möglich sei und beachtet dabei allerdings nicht – entgegen dem Exegeten aṯ-Ṯa‛ālibī (s.unten) – auf den Handlungsort, nämlich das Jenseits. Des Weiteren führt er die schon zuvor erwähnte Überlieferung über die Mitschuld bzw. Blutschuld an.[17]

Als ein weiterer Beleg führt al-Qurṭubī den Koranvers 29:13 an, wo es heißt: „Sie werden jedoch sicher ihre (eigene) Last tragen, und dazu noch weitere Last (w. und Lasten mit ihren Lasten) […]“. Zu diesem Vers kommen wir später wieder zurück.

Im Vergleich zu den bisher erwähnten Exegeten misst al-Qurṭubī in Anlehnung an bekannte Überlieferungen der wortwörtlichen Aussage Hābīls mehr Bedeutung bei, wenn auch er sich nicht gänzlich daran festzuhalten scheint zumal er die weiteren Meinungen ebenfalls wiedergibt.[18]

Aṯ-Ṯa‛ālibī (gest. 1470)

Aṯ-Ṯa‛ālibī vertritt die gleiche Meinung wie die Gelehrten, die eine Aufladung der Sünden ablehnen und führt die gleiche Überlieferung über die jenseitige Aufladung an, wie al-Qurṭubī es tat. Aṯ-Ṯa‛ālibī erwähnt diese Überlieferung allerdings aufgrund dessen, weil die Sünden erst im Jenseits(!) – quasi im Sinne von „wenn überhaupt“ – aufgeladen wird und nicht im Diesseits. Somit kann für ihn nicht von einer Aufladung einer Sünde im Diesseits die Rede sein.

In Anlehnung an unsere Dimensions-Thematik können wir bei aṯ-Ṯa‛ālibī zwei Beispiele der Unterscheidung erkennen, allerdings geschieht dies mehr nebensächlich. Zum einen macht er bei der Aufladung der Sünden im Jenseits eine örtliche Unterscheidung der Dimensionen.[19] Interessant ist bei aṯ-Ṯa‛ālibī auch eine weitere Interpretation. Bei der letzten Aussage Hābīls „Das ist der Lohn der Frevler“ in dem oben erwähnten Koranvers, gibt aṯ-Ṯa‛ālibī die Möglichkeit an, dass diese Aussage eventuell nicht von Hābīl sei, sondern von Gott und macht damit eigentlich – unabhängig vom Urteil – die von uns erwünschte Unterscheidung des Gesagten/der Dimension. Doch leider belässt er es nur mit dieser Erwähnung der Möglichkeit und geht nicht näher darauf ein. Auf die von uns erforschte Sprecherdimension wird nicht hingewiesen.[20]

Ǧalāl ad-Dīn as-Suyūtī (gest. 1505)

Der klassische Gelehrte und Autor der bekannten Koranenzyklopädie al-Itqān fī ‛ulūm al-qurʼān as-Suyūtī belässt in seinem exegetischen Werk ad-Dur al-Manṯūr mit der Erwähnung mehrerer Überlieferungen, die allesamt für die Aufladung der Sünden Anderer sprechen sollen. Koranverse wie die erwähnte 17:15 werden nicht erwähnt. Auch kein Wort über die Unterscheidung der Dimensionen.[21]

Die bisher aufgeführten Exegeten gehören der klassischen Exegese an. Bevor wir die oben relevanten Koranverse unter dem Aspekt der Sprecherdimension analysieren, wollen wir noch kurz die Aussagen von einigen zeitgenössischen Koranexegeten erwähnen und das Ganze abrunden.

Zeitgenössische Koranexegeten

Der Ägypter Muḥammad ‛Abduh (gest. 1905) und sein Schüler Rašīd Riḍā (gest. 1935) interpretieren die Aussage von Hābīl wie die meisten oben erwähnten Exegeten, dass es sich hierbei nämlich um die Sünde der Tötung handelt und nicht um eine Aufladung der Sünden des Getöteten. Sie argumentieren dabei ähnlich wie aṯ-Ṯa‛ālibī und verweisen mit der gleichen Überlieferung auf die Übertragung von Sünden erst(!) im Jenseits.[22] Der zeitgenössische Exeget Süleyman Ate¢ (geb. 1933) und die Kommission des Diyanet-Tafsīrs[23] (des Amtes für religiöse Angelegenheiten in der Türkei) formulieren die Aussage in Sure 5:29 in Anlehnung an die Auslegung von Ibn ‛Abbās und weiteren Frühexegeten[24] ebenfalls als eine Art Warnung. Durch diese Warnung wolle Hābīl veranschaulichen, in welchem großen Irrtum Qābīl liege und ihn davon abhalten, indem er seine eigenen Sünden auf ihn symbolisch ablegt, dass zu seinen bisherigen Sünden nun auch die Sünde des Tötens dazu gezählt werden könnte. Entsprechend wäre die Formulierung folgendermaßen: „Ich möchte, dass du deine und durch die Tötung meiner Person auch diese Sünde auf dich lädst.“[25] Mawdūdī (gest. 1979) liefert eine identische Erklärung wie az-Zamaḫšarī und interpretiert es im Sinne von der Aufladung der Sünde „aufgrund dessen, was ich wegen dir getan hätte.“[26] Und schließlich gesellt sich auch der vor kurzem verstorbene Wahba az-Zuḥaylī (gest. 2015) zu dieser Interpretation der Warnung und der Aufladung der Sünde aufgrund des Akts des Tötens.[27]

Analyse des Koranverses unter dem Aspekt der Sprecherdimension

Die meisten Koranexegeten haben diesen besagten Koranvers 5:29 nicht in einem vermeintlichen Widerspruch zu dem Koranvers 17:15 gesehen. Denn sie haben 5:29 nicht wortwörtlich verstanden und interpretiert, sondern legten diesen Vers – eventuell in stetiger Anlehnung und Rückführung auf 17:15 – als eine Art Warnung aus und lösten eigentlich sehr früh das Problem eines vermeintlichen Widerspruchs, indem sie die Aussage Hābīls nicht als eine Aufladung der Sünden des Opfers auf den Mörder auslegten, sondern als ein menschlicher Wunsch oder als eine Aufladung einer weiteren Sünde durch den Akt des Tötens. Doch scheint es, wie wir gesehen haben, immer wieder die Diskussion gegeben zu haben, dass einige – insbesondere Gelehrte der riwāya-Tradition (tafsīr bi-r-riwāya-Methode)[28] wie al-Qurṭubī – entweder die Möglichkeit einer solchen wortwörtlichen Interpretation sahen oder auch diese Meinung durchaus vertreten haben.

Keiner der Exegeten hat bei der Aufführung dieses Verses auf die verschiedenen Dimensionen der Sprecher verwiesen. Selbst wenn aṯ-Ṯa‛ālibī an einem Punkt dieses Verses auf eine eventuelle Unterscheidung als eine Möglichkeit verwies, so beließ er leider nur mit diesem Hinweis. Auch al-Māturīdīs Auslegung des menschlichen Wunsches kann nicht als eine Unterscheidung der Dimensionen betrachtet werden, zumal er auch die Meinung – wenn auch nicht so gewichtig – eine Übertragung der Sünde für möglich hält.

Wenn wir aber genau diese Unterscheidung machen würden, in der Form, dass jede im Koran getroffene Aussage genau auf den im Koran erwähnten Sprecher verwiesen wird, so dürften einige Diskussionen sich erübrigen. Zumindest könnten hiermit für die verschiedenen theologischen Positionen weitere Belege oder Aspekte geliefert werden. Denn, wenn von vornherein gesagt wäre, dass es Hābīl ist, der seine eigenen Sünden auf seinen Bruder aufladen möchte und nicht Gott und im gleichen Moment darauf hingewiesen wird, dass es Gott selbst ist, der in dem Koranvers 17:15 deutlich verkündet, dass niemand die Last bzw. Sünde eines anderen auf sich nehmen kann, so wäre m.E. zumindest ein sehr gutes Argument gegen die Aufladung der Sünden im Diesseits vorhanden. Dies gilt auch für den von al-Qurṭubī als Beleg vorgelegten Koranvers 29:13. Da heißt es nochmal: „Sie werden jedoch sicher ihre (eigene) Last tragen, und dazu noch weitere Last (w. und Lasten mit ihren Lasten) […]“ Auf den ersten Blick kann dieser Vers tatsächlich als ein Argument für diese Übertragungs-Meinung dienen. Doch spricht dieser Koranvers, in Relation mit dem vorherigen Vers und bei einer näheren Betrachtung der Formulierung, nicht von den Sünden/Lasten „anderer Menschen“, sondern von weiteren(!) Lasten/Sünden der Ungläubigen, worauf auch Paret mit der wörtlichen Übersetzung hinweist. Dagegen wird in dem Vers zuvor (29:12) noch einmal direkt durch Gott deutlich erwähnt, dass (selbst) die Ungläubigen (kafarū) die Sünden (ḫaṭāyāhum) der Gläubigen (āmanū) nicht auf sich nehmen können. Die Ungläubigen (allaḏīna kafarū) werden bei diesem Vers ebenfalls von Gott zuerst zitiert „Folgt unserem Weg! Dann werden wir eure Sünden auf uns nehmen […]“ und im nächsten Moment verkündet Gott in einer direkten Aussage, dass so etwas nicht passieren wird/kann.

Würden wir darüber hinaus nur die Koranverse ohne die Überlieferungen zur Klärung des Sachverhalts, ob Qābīl zu den Höllenbewohnern gehört, hervorheben, so können wir (auch) davon ausgehen, dass er eventuell nicht zu den (ewigen) Höllenbewohnern gehört. Denn die kurze Geschichte im Koran endet mit einer Reue (nadam) „Und er empfand nun Bedauern (und Ärger über das, was geschehen und nicht mehr zu ändern war) (w. er wurde einer von denen, die bereuen (etwas verkehrt gemacht zu haben).“ Und Gott vergibt jede Sünde, sofern die Reue geschieht. Allerdings sahen die meisten Exegeten in Qābīl einen Höllenbewohner und verknüpften die Reue mit dem Versäumnis einer anständigen Beerdigung und nicht mit dem Mord. Zu dieser Auslegung der Koranexegeten würde die Verwendung des Wortes nadam im Koran als Beleg fungieren. Nadam oder an-nadama ist etwas, was nicht mehr zurückgebracht werden kann, woraus dann die Reue, Trauer oder aber eben auch Ärger entsteht. Die Verwendungen dieses Wortes im Koran, sprechen von einer Reue ohne die aufrichtige Intention zur Umkehr oder noch mehr, sie sprechen im Sinne von Ärgernis. Das Wort verweist an den entsprechenden Stellen[29] mehr auf ein Bedauern und Ärger (über verpasstes oder über ihre eigene Schuld) als auf eine tatsächliche Reue.[30] Doch ein solch eindeutiges Urteil über Qābīl geschah m.E. nicht nur durch die Überlieferungen, sondern in erster Linie durch die Aussage Hābīls im Koran, der seinen Bruder zu den Höllenbewohnern aufgrund des Mordes zurechnete. Wenn diese Aussage aber als die Aussage von Hābīl und nicht als Urteil Gottes wahrgenommen wäre, so wäre die Verurteilung Qābīls nicht so deutlich verlaufen. Denn Gott spricht in mehreren Koranversen deutlich aus, dass er nur die Vielgötterei nicht vergeben werde und da Qābīl als Sohn Adams Gott auch kannte, war er auch ein Gläubiger.[31] Selbst, wenn seine Reue (nadam) nicht aufrichtig war oder diese Reue nicht für den Mord galt, so war er zumindest ein Sündiger und ein Unrechttuer (ẓālim), aber kein Polytheist oder Ungläubiger. Aus Sicht Hābīls mag Qābīl eventuell ein Höllenbewohner sein, doch aus „Sicht Gottes“ können wir dies mit einer gewissen Sicherheit nicht behaupten.[32]

Was die Überlieferungen zu diesem Thema betrifft, so werden diese von einigen Exegeten der riwāya-Tradition hinzugeholt, um – im Gegensatz zu den weiteren Exegeten – die Aufladung der Sünde Anderer zu bestätigen. In diesen Überlieferungen wird erstens auf Qābīl das ganze vergossene Blut der Menschheitsgeschichte aufgebürdet und zweitens wird Qābīl als ein schlechtes Beispiel bzw. als Beispiel eines Höllenbewohners präsentiert. Einer weiteren Überlieferung zufolge soll der Prophet Muḥammad auf die Frage, was man tun solle, wenn jemand ihn töten wolle, die Antwort gegeben haben, dass man sich hierbei an die Söhne Adams halten solle. Diese und oben erwähnte Überlieferungen scheinen allerdings sowohl dem Koranvers 17:15 zu widersprechen, in dem die Last einer Sünde eines anderen abgelehnt wird als auch zu dem Gebot der Selbstverteidigung und des Schutzes des Lebens.[33] Sehr gut möglich, dass diese Überlieferungen bzw. die Aussagen Muḥammads als eine Art Warnung gedacht waren und dabei auf die erste Tat und des daraus entstandenen Unheils verweisen wollte. Denn wir wissen sehr gut aus den Ḥadīṯ- und Geschichtswerken, dass Muslime sich gegenseitig bekriegt haben, ja sogar bekannte Gefährten des Propheten mit dabei waren. So hätten diese aufgrund dieser wortwörtlich als theologische Lehre und Urteil verstandenen Überlieferungen ihre Verurteilung schon längst bekommen. Ein Faktum, welches – sofern nichts übersehen wurde – von den oben erwähnten Exegeten nur von al-Māturīdī angeführt wurde.

Selbst wenn jedes einzelne Wort im Koran für die Muslime im Wesen als Wort Gottes zu verstehen ist und als solches akzeptiert wird, so ist es wiederum Gott der die Menschen aus früheren Zeiten durch die Zitierung sprechen lässt und ihre Meinungen wiedergibt. Das heißt nun nicht, dass jedes von Gott zitiertes und von historischen Menschen gesprochenes Wort, zugleich als „direkte Aussage, Meinung oder Urteil“ Gottes zu verstehen/urteilen ist. Menschen wie die Propheten sprechen sicherlich im „Sinne Gottes“ und Gott zitiert diese Aussagen, doch auch hier gibt es Nuancen, die uns sicherlich weitere wichtige und interessante Informationen und Blickwinkeln liefern dürften. Insbesondere dann, wenn zu dem gleichen Sachverhalt von Gott direkte Aussagen vorhanden sind. Wie z.B. im Falle der Selbstverurteilung, welcher eingangs erwähnt wurde. Es dürfte nämlich eine Differenz geben zwischen der Selbstverurteilung eines Propheten mit „Frevler, Unrechttuer – ẓālim“ und eines direkten Urteils/Schuldspruchs Gottes.

Hābīls Aussage über die Sündenaufladung und der Wunsch, dass sein Bruder zu den Höllenbewohnern gehören soll, lässt sich sicherlich vielfältig interpretieren. Die mehrheitlichen muslimischen Koranexegeten haben diese Koranverse nicht wortwörtlich verstanden und interpretiert, sondern in Anlehnung an weitere Koranverse gegen die Sündenaufladung ausgelegt. Doch ist es ersichtlich, dass die Koranexegeten es sich schwergemacht haben, diese eine Stelle gemäß der Sure 17:15 entsprechend zu interpretieren. Sie waren sich dessen bewusst, dass die Aussage Gottes 17:15 eine deutlichere Botschaft in sich trägt und somit die Aussage Hābīls relativiert, doch genau auf diesen Punkt näher Bezug zu nehmen und diese Dimensionen zu erkennen, fehlte. Weiterhin ließ sich zeigen, dass die wortwörtliche Auslegung der Aussage Hābīls in der Geschichte ihre Relevanz hatte und immer noch relevant sein kann und vermutlich (weiter wurde von mir nicht erforscht) auch heute bei manchen ihre Akzeptanz bekommt. Was nicht unbedingt falsch sein muss, sofern die Dimensionen bzw. die „Sprecher“ zu diesem Hauptthema genauer unterschieden werden. Es kann durchaus sein, dass Hābīl mit seiner Aussage es genauso meinte, zumal wir als eine Eventualität davon ausgehen können, auch in Anlehnung an einige Interpretationen der Exegeten[34], dass zu seiner Zeit keine theologischen Lehren oder Diskussionen wie zurzeit Muḥammads und heute vorherrschten. Wir gehen in diesem Artikel nämlich davon aus, dass es sich hierbei um die zwei Söhne Adams handelt, quasi um die ersten Menschen.

Entgegen einer eventuellen Versuchung diese Aussage Hābīls aus der heutigen theologischen Perspektive wortwörtlich auszulegen, selbst wenn die hier erwähnten zeitgenössischen Exegeten es nicht taten, wäre die Hervorhebung der Sprecherdimension eine hilfreiche Methode, um diese Thematik besser zu verstehen. Und diese Beachtung/Unterscheidung/Lesung der Sprecherdimension dürfte und könnte zu verschiedenen weiteren Themen weitere Perspektiven und Weisheiten aus dem Wort Gottes liefern.

 

[1] Vgl. Sure 6:25; 8:31; 16:24; 23:83; 25:5; 27:68; 46:17; 68:15 und 83:13. In diesen Versen werden stets eine oder mehrere ungläubige Personen zitiert!

[2] Vgl. Ǧurǧānī, ‛Alī b. Muḥammad al-: Kitāb at-ta‛rīfāt, Maktabat Lubnān, Beirut 1985, S. 94; Iṣfahānī, Rāġib al-: al-Mufradāt fī ġarīb al-qurʼān, Maktabat nizār muṣtafā al-bāz, Mekka/Riad o. J., Bd.1, S. 165f.

[3] Für al-Ḥasan al-Baṣrī und weitere Gelehrte soll es sich hierbei nicht um die direkten Kinder Adams handeln, sondern um zwei Israeliten. Da alle Menschen als Kinder Adams angesehen werden, wurde hier, so diese Gelehrten, diese Bezeichnung verwendet. Dies wird aber zugleich von den meisten Gelehrten abgelehnt (vgl. Bork-Qaysieh, Waltraud: Die Geschichte von Kain und Abel (Hābīl wa Qābīl) in der sunnitisch-islamischen Überlieferung: Untersuchung von Beispielen aus verschiedenen Literaturwerken unter Berücksichtigung ihres Einflusses auf den Volksglauben. Berlin: Klaus Schwarz, 1993. S. 27f.).

[4] Für weitere Aspekte wie die Vergebung Gottes, die Reue Qābīls oder der Schicksalsbestimmung als Höllenbewohner durch Hābīl aus diesen Koranversen und aus der Geschichte der beiden Söhne Adams, siehe: Inam, Ahmet: Die theologischen, juristischen und sozialen Dimensionen der Sünde im Koran, Ditibverlag, Köln 2016, S. 227-232.

[5]Muqātil b. Sulaymān: at-Tafsīr al-kabīr, Ed. ‛Abd Allāh Maḥmūd Šaḥḥāt, Türk. v. Beşir Eryarsoy, Istanbul 2006, Bd.1, S.461-462.

[6]Vgl. Buḫārī, Abū ‛Abd Allāh Muḥammad b. Ismā‛īl al-: Ǧāmi‛ aṣ-Ṣaḥīḥ, al-Matba‛a al-salafiyya, Kairo 1400 n. H., ǧanāʼiz, 32/1283.

[7]Vgl. Polat, Selahattin: “Galat”, In: İslam Ansiklopedisi, TDV, Bd. 13, S. 300.

[8]Vgl. Ṭabarī, Abū Ǧa‛far Muḥammad b. Ǧarīr aṭ-: Ǧāmi‛ al-bayān ‛an taʼwīl āy al-qurʼān, Kairo 2001, Bd.8, 330-333.

[9] Siehe oben Fußnote 3.

[10] Diese Überlieferungen interpretiert er in Bezug auf diese Kriege denn auch als eine Art „Vorhersehung“ des Propheten. Vgl. Māturīdī, Abū Manṣūr al-: Taʼwilāt al-qurʼān (türk. Übersetzung), Ensar Verlag, Istanbul 2016, Bd. 4, S. 200-212.

[11]Vgl. Zamaḫšarī, Abū al-Faraǧ az-: al-Kaššāf, TYEKB, Istanbul 2017, Bd. 2, S. 420f.

[12]Vgl. Buḫārī: Ǧāmi‛ aṣ-ṣaḥīḥ (H.1400), ǧanāʼiz, 32/1283.

[13]Vgl. Ǧawzī, Abū al-Faraǧ al-: Zād al-masīr fī ‛ilm at-tafsīr, Maktaba al-islamiyya, Beirut 1984, Bd. 2, S. 335f.

[14]Vgl. Rāzī, Faḫr ad-Dīn ar-: Mafātīḥ al-ġayb / at-Tafsīr al-kabīr, Dār al-fikr, Beirut 1981, Bd. 11, S. 212-213.

[15] Vgl. hierzu Inam: Sünde im Koran, S. 358-363.

[16] Vgl. Buḫārī: Ǧāmi‛ aṣ-ṣaḥīḥ (1400 n. H.), riqāq, 48/6534; Tirmiḏī, Abū ‛Īsā b. Muḥammad b. ‛Īsā at-: al-Ǧāmiՙ aṣ-ṣaḥīḥ: as-Sunan at-ṭirmiḏī, Dār al-ġarb al-islāmī, Beirut 1998, qiyāma, 2/2419. Einer weiteren Variante dieser Überlieferung zufolge soll dies auf der sog. aṣ-ṣirāṭ-Brücke geschehen (vgl. al-Buḫārī: Ǧāmi‛ aṣ-ṣaḥīḥ (1400 n.H.), riqāq, 48/6535).

[17] Vgl. Buḫārī: Ǧāmi‛ aṣ-ṣaḥīḥ (1400 n. H.), ǧanāʼiz, 32/1283.

[18] Vgl. Qurṭubī, Abū ‛Abd Allāh Muḥammad al-: al-Ǧāmi‛ li-aḥkām al-Qurʼān. Beirut 2006, Bd.7, S. 413-414.

[19] Die Frage, wie weit diese Form der örtlichen Unterscheidung schon in den klassischen Werken durchgeführt wurde und ob die verschiedenen theologischen und juristischen Urteile davon beeinflusst wurden, dürfte sicherlich ein weiteres interessantes Forschungsthema sein.

[20] Vgl. Ṯa‛ālabī, Ebī Zayd Maḫlūf aṯ-: al-Ǧawāhir al-ḥisān fī tafsīr al-qurʾān, Beirut 1997, Bd. 2, S. 370f.

[21] Vgl. Suyūtī, Ǧalāl ad-Dīn as-: al-Dur al-manṯūr fī at-tafsīr bi-l-maʼṯūr, (türk. Übers.) Istanbul 2012, Bd. 5, S. 243ff.

[22]‛Abduh, Muḥammad/ Riḍā, Rašīd: Tafsīr al-manār, Kairo 1947, Bd. 6, S. 344.

[23] Die Kommission besteht aus den folgenden Mitgliedern: Hayrettin Karaman, Professor der Islamischen Jurisprudenz, İbrahim Kafi Dönmez. Professor der Islamischen Jurisprudenz, Mustafa Çağrıcı, Professor für Islamische Moral und Moralphilosophie und Sadrettin Gümüş, Professor für Koranexegese. Siehe auch: Pink, Johanna: Sunnitischer Tafsīr in der modernen islamischen Welt (2011), S. 71-74 u. 346-349.

[24]Vgl. Rāzī: Tafsīr (1981), 11:212; Ṭabarī: Ǧāmi‛ al-bayān (2001), 8:332f.; Karaman, Hayrettin; Çaǧrıcı, Mustafa [u.a.]: Kurʼan Yolu, Diyanet Vakfı, Ankara 2007, Bd. 2, S. 204.

[25]Vgl. Karaman [u.a.]: Kurʼan Yolu (2007), 2:204; Ateş, Süleyman: Yüce Kur’an’ın Çaǧdaş Tefsiri, Yeni Ufuklar, Istanbul 1988-1992, Bd.5, S. 511.

[26]Mawdūdī, Abū al-A‛lā: Tafḥīm al-Qur’ān, Istanbul 2005, (türk. Übers.) Bd 1, S. 475.

[27]Wahba al-Zuḥaylī: at-Tafsīr al-Munīr, (türk. Übers.) Risale Yayınları, Bd. 3, S. 427.

[28] Vgl. Gilliot, Claude: Exegesis of the Qur’ān: Classical and Medieval, In: Encyclopaedia of the Qur’ān, Bd.2, S. 100.

[29]Vgl. Sure 5:52, 10:54, 23:40, 26:157, 34:33.

[30]Vgl. Iṣfaḥānī: Mufradāt, (o.J.), 2:628. Vgl. Inam: Sünde im Koran, S. 334-335.

[31] Selbst wenn die meisten Exegeten nicht offen über ihn als einen Ungläubigen oder Polytheisten sprechen, so sehen die meisten in ihm schon einen Höllenbewohner. Inwieweit hier von einer zeitlichen Höllenstrafe für Gläubige oder von einer ewigen Strafe gesprochen wird, lässt sich nicht feststellen. Al-Qurṭubī spricht zumindest von einer Möglichkeit, dass Qābīl ein Gläubiger/Muslim gewesen sei. Vgl. Rāzī: Tafsīr (1981), 11:214; Qurṭubī: al-Ǧāmi‛ (2006), Bd.7, S. 413-414.

[32] Vgl. Inam: Sünde im Koran, S. 334-335.

[33]Vgl. Rāzī: Tafsīr (1981), Bd. 1-32, 11:212-213.

[34] So verwiesen einige Exegeten auf die Interpretation Muǧāḥid’s in Bezug auf die Passivität Hābīls, dass damals das vorhandene Recht der Selbstverteidigung nicht gab. Vgl. u.a. Rāzī: Tafsīr (1981), Bd.11, S. 212-213; Ǧawzī: Zād al-Masīr (1984), Bd. 2, S. 335f.

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