Nr. 240 (2018)

Johannes Kalvin
Ein Wegbereiter des Geistes des Kapitalismus?

Nr. 240 (2018)

Von Edmund Weber

Abstract
The thesis John Calvin has been the religious initiator of modern capitalist mentality is not in accordance with his doctrine, just the opposite is true. Calvin had a very traditional will say non- or even ant-capitalist in view of economic behaviour.

Eodem pertinet illud Salomonis: Pauper et foenerator occurrunt sibi: oculos amborum Deus illuminat (Prov. 29,13). Quamvis enim permixti sint pauperibus divites in mundo, dum singulis divinitus assignatur sua conditio, admonet, Deum, qui omnibus illucet, minime coecutire, atque ita pauperes ad tolerantiam hortatur, quia onus sibi a Deo impositum excutere conantur, quicumque sua sorte contenti non sunt. Sic et alter Propheta profanes homines obiurgat, qui industriae hominum vel fortunae adscribunt, quod alii iacent in sordibus, alii ad honores emergent. (Psal, 75.7).[1]

Eben dahin (sc. daß Gott Alles vorbestimme) gehört jenes, (was Salomons ist): Der Arme und der Geldverleiher treten sich feindlich gegenüber; Gott (aber) erleuchtet beider Augen (Prov. 29,13). Obgleich nämlich die Reichen mit Armen in der Welt vermischt sind, solange als den Einzelnen durch göttliche Fügung ihr Stand zugewiesen wird, erinnert er (sc. Salomon) daran, daß Gott, der auf alle sein Licht scheinen läßt, nicht im geringsten blind ist, und so ermahnt er die Armen zur Geduld, weil sie mit ihrem Los unzufrieden sind und die ihnen von Gott auferlegte Last abzuschütteln versuchen. So schilt ein anderer Prophet die weltlich gesonnen Menschen, welche dem Fleiß der Menschen oder dem Glück zuschreiben, daß die einen im Dreck liegen, die anderen aber zu Ehren kommen.

Die verbreitete Vorstellung, daß Johannes Kalvin gelehrt habe, am erfolgreichen Aufstieg durch eigene Arbeitsleistung könne man zwar nicht die Ursache wohl aber ein Zeichen der von eigenen Werken völlig unabhängigen, d.h. freien Erwählung und Bestimmung zum ewigen Heile, der jenseitigen Prädestination, erkennen, ist ein ideologisches Produkt des sich vom als müßiggängerisch angesehene Adel abgrenzenden protestantischen Bürgertums Deutschlands.

Kalvin lehrt vielmehr, daß es keinen Wechsel von Armut zu Reichtum gibt. Die Erwählung und Bestimmung der irdischen Lebensweise, die diesseitige Prädestination, ist ebenso unumstößlich wie die jenseitige. Wer arm geboren wird, ist gehalten, sich damit abzufinden, sich in Geduld zu üben. Wer reich geboren ist, ist dies ebenfalls auf Grund der diesseitigen Vorherbestimmung und nicht auf Grund von eigener Arbeitsleistung oder durch Glück.

Diese Vorstellung von der diesseitigen Prädestination läßt keine Begründung für den Wechsel der Vermögensverhältnisse zu. Deshalb ergeht Kalvins Warnung an die Armen, die mit ihrem Vermögensstand unzufrieden sind, nicht reich werden zu wollen, sondern gemäß der göttlichen Fügung arm zu bleiben. Durch eigene Arbeitsleistung oder Glück werde sowieso nichts verändert, ist doch Gottes Vorherbestimmung unumstößlich.

Das aber heißt, daß es sinnlos ist, wenn die Armen sich des Reichtums der Reichen bemächtigen wollen, daß sie durch ihre Arbeit kein Kapital ansammeln können, ja daß Reichwerden eine Illusion ist. Wenn die Armen versuchten, aus der Armut durch Arbeitsfleiß, industria, herauszukommen, würden sie gegen Gottes Verfügung rebellieren – allerdings ohne Erfolg, denn auch die diesseitige Prädestination ist der Verfügungsgewalt der Menschen entzogen.

Daraus folgt für Kalvin und daran läßt er keinen Zweifel, daß die Form diesseitiger Existenzweise nicht nur nichts mit der jenseitigen Prädestination zu tun hat, sondern daß an ihr in keiner Weise auch nur das kleinste Zeichen, die geringste Andeutung der Erwählung zum ewigen Heile erkannt werden kann. Weder ist der irdische Arme als solcher noch der irdische Reiche als solcher auf Grund diesseitiger Existenz zum ewigen Heil erwählt oder zur Hölle verdammt. Die jenseitige und die diesseitige Vorherbestimmung haben nichts miteinander zu tun.

Die theologische Intention dieser Lehre von dieserart doppelter Prädestination ist denn auch, daß die endgültige Wahrheit der menschlichen Existenz nicht von den Werken und Leiden des Menschen begründet wird, daß der Grund der Existenz ihm nicht bloß unbekannt ist, sondern daß dieser mit dem menschlichen Vermögen die Existenz zu gestalten, Kultur zu entwickeln, überhaupt und wesentlich nichts zu tun hat.

Kalvins Lehre von der diesseitigen Prädestination dient einzig und allein dem Zweck, die irdische Existenz, wie immer sie gestaltet wird, als medium salutis auszuschließen. Offenbar dachten viele seiner frommen Genossen, daß sie durch Erfolg, sei er durch industria oder fortuna erreicht, doch ein Zeichen ihrer Vorherbestimmung erkennen könnten, daß sie darin doch wenigstens zu erkennen vermöchten, daß sie zum ewigen Heil, das gewisslich nicht von industria und fortuna ursächlich abhinge, vor aller ihrer Wirklichkeit bestimmt seien. Kalvin läßt auch diesen, so trickreichen Zugriff des Menschen auf seine Vorherbestimmtheit nicht zu. Er erinnert den Menschen daran, daß sich er mit keiner seiner Existenzgestaltungen, weder mit industria noch mit fortuna gleichsam rational, berechnend, Gewißheit über seine sogenannte letzte Bestimmung verschaffen kann.

Es geht Kalvin an dieser Stelle nicht darum, die für ihn selbstverständliche reformatorische Lehre, daß kein Werk des Menschen dessen letztendlichen Sinn und Wert begründet, sondern daß welch immer geartetes Handeln und Leiden nicht das geringste Indiz für die ewige Prädestination hergeben.

Kalvin verwirft ganz entschieden diese These von der innerweltlichen Askese, durch die die Arbeit zu Reichtum verhelfe, der wiederum ein Zeichen der Erwählung zum ewigen Heile sei; er verwirft aber auch die andere Form des Erwerbs von Reichtum, das Glück oder anders gesagt das auf Gewinnmaximierung ausgerichtete Risiko. Die Grundprinzipien der Ideologie der erfolgreichen Kapitalakkumulation, auf ökonomischen Erfolg zielende extreme Arbeitsleistung, industria, und riskante Spekulation, fortuna, galten Kalvin als untaugliche Mittel, sich seines ewigen Heils zu vergewissern.

Dies ist allein Sache des Glaubens an das von Gott frei geschenkte ewige Heil. Diesen Glauben kann sowohl der Arme als auch der Reiche haben. Es ist die Einsicht, daß weder mit industria noch durch fortuna letztendlicher Wert und Sinn menschlicher Existenz gesetzt werden, daß im Grunde der Existenz der Mensch frei ist, daß er des Glückes nicht braucht und nicht seiner Kraftanstrengung, um Mensch zu sein.

Kalvins Polemik richtet sich gegen jene Protestanten, die die Ungewissheit über ihre von allem Werk und Leiden nicht bedingte Erwählung nicht ertragen können.

Daß Kalvin die Armen auffordert, in ihrer Armut zu verharren, ist daher auch kein gesellschaftspolitisches Programm. Er will damit nur genau das verhindern, was in der bürgerlichen Theologie und Religionssoziologie sowie im protestantischen Liberalismus verbreitet wurde, daß Erwählung an wirtschaftlichen Fortschritt und sozialem Aufstieg ablesbar sei.

Kalvin war nicht im Mindesten der geistige Vater der religiös begründeten Idee innerweltlicher Askese, durch die Arbeit letztendlich unter Verzicht auf privaten Konsum, d.h. auf Luxus, die Kapitalakkumulation, d.h. den Kapitalismus bewirkt habe.[2]

Der Glaube an die Erwählung, nicht Arbeit, Glück und Verzicht, ist der Weg zum Heil; dieser Glaube ist frei von allem menschlichen Werk und Leiden.

Im Glauben Kalvins vergewissert sich der Mensch seiner absoluten Freiheit, die ihm das Bewußtsein erschließt, daß die  die  Illusion der Selbstabhängigkeit, die Magie der Selbstverwirklichung, der trostlose Kulturfetischismus nicht den Grund seiner Existenz ausmachen.

[1] Johannes Kalvin: Institutio Christianae Religionis / Unterricht in der christlichen Religion I.16.6 (1536).

[2] Max Weber hatte in seiner berühmten Schrift Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1914 f., 1920) vorsichtige Überlegungen angestellt, ob die Puritaner nicht durch ein persönlichen Verzicht auf luxuriösen Genuß produzierter Güter nicht vom Geist des Kapitalismus beseelt gewesen seien, so daß als Wirkung die Kapitalakkumulation entstanden sein könnte; die These, daß Kalvin der ideologische Urheber solcher kapitalistischer Mentalität gewesen sei, ist eine Parole der epigonalen Max-Weber-Orthodoxie, die heute wieder viele Hörsäle beherrscht und viele Bücher füllt. Warum sollte nach Kalvin ein Geldverleiher, um sein künftiges ewiges Schicksal zu erkunden, Kapital anhäufen, wenn doch sein ewiges Seelenschicksal und sogar seine irdische Existenz allein von Gottes freiem Ratschluß und Willen bestimmt wird? Mag der Kapitalist noch so erfolgreich sein: ob er für den Himmel vorgesehen ist oder für die Hölle, kann er von seinen Werken und Leiden jedenfalls nicht ablesen. Bettler oder Kapitalist dürfen jedoch glauben, daß sie dazu, jedoch ohne Beachtung ihrer Werke und Leiden, durch Gottes freiem Ratschluß zum ewigen Heil vorherbestimmt seien.

Link zum Artikel: relkultur240

Schreibe einen Kommentar