EXISTIEREN IM WIDERSPRUCH[1]
Ein Essay über Martin Luthers dialektische Theologie in Auseinandersetzung mit der zweiwertigen Logik des Aristoteles und ihre logische Reformulierbarkeit durch G.W.F. Hegels dialektische Logik[1]
Nr. 239 (2018)
Meiner Frau Barbara Weber-Rehberg
in Erinnerung an die gemeinsame Tübinger Zeit
Inhalt
I. Martin Luthers dialektische Theologie in Auseinandersetzung mit der aristotelischen Logik
- Die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium
- Der Satz vom Widerspruch und der Satz vom ausgeschlossenen Dritten
- Der logisch problematische Zeitfaktor im aristotelischen Satz vom Widerspruch
- Die göttlichste Vernunft und die als Hure missbrauchte Vernunft
- Zweiwertigkeit als Unglaube
- Simul peccator et iustus – Sünder und Gerechter zugleich
- Vom Mißbrauch des Glaubens
- Identität im extra nos
- Umsonst ist die Existenz
- Der aristotelische Schrecken vor der Freiheit der Gnade, des Grundes der Existenz
II. Zur logischen Reformierbarkeit der dialektischen Theologie Luthers durch G. W. F. Hegels Logik
III. Zusammenfassung
VI. Rabindranath Tagore über die Dialektik der Liebe
I. Martin Luthers dialektische Theologie in Auseinandersetzung mit der aristotelischen Logik
Die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium
Für die Entwicklung des existentiellen Bewußtseins ist Luthers im Brief des Paulus von Tarsus an die christliche Gemeinde zu Rom exegetisch gewonnene Erkenntnis des radikalen Unterschieds von Gottes Gesetz und Gnade in ihren existentiellen Konsequenzen von grundlegender Bedeutung.
Seine Unterscheidung von Gesetz und Gnade, letzteres als Inhalt des Evangeliums[1], hat diesen beiden traditionellen theologischen Begriffen einen völlig neuen existentiellen Sinn gegeben.
Luthers theologische Unterscheidung versteht unter Gesetz die von der – von Gott dem Menschen anvertrauten – Vernunft gesetzten Zwecke und Mittel der Gestaltung der irdischen Existenz.
Gnade, die von den ersten Christen als Evangelium, d.h. als existentielle Freude auslösende Mitteilung Gottes erlebt wurde, bedeutet die absolute Freiheit Gottes, des Grundes der Existenz, von vorgegebenen Zwecken und Mitteln, d.h. vom Gesetz.
Das von Vernunft geleitete Gesetz ist der Ausdruck des einen Willens Gottes, seine Schöpfung zu bewahren, welche Bewahrung Sache des endlichen Geistes, d.h. seiner Gestaltung der Existenz mittels von der Vernunft geleiteter Werke, ist. Die Realität des anderen Willens Gottes ist die Gnade, welche gewährleistet, daß der Grund der Existenz allein Gottes unbestimmbares und nicht ein vom endlichen Geist bestimmbares Werk ist. Dieses Werk Gottes, der Grund der Existenz, ist daher Gegenstand nicht der Gestaltung der Existenz, dem Gesetzeswerk, sondern einzig und allein des Glaubens oder des Unglaubens.
Die Theologie zur Zeit Luthers verkannte die Radikalität des Unterschieds und setzte daher die beiden Theologumena Gesetz und Gnade zu sehr in eins.
Unter Evangelium verstand man damals – so Luther – das von Christus gebrachte vollkommene Gesetz, welches das weniger vollkommene Gesetz des Mose abgelöst habe. Es gab also in Wahrheit zur Begründung und Bestimmung der Existenz nur das Gesetz, und Gnade diente lediglich dazu, bei der Befriedigung von dessen Ansprüchen auszuhelfen.
Den Prozeß seiner Erkenntnis des radikalen Unterschieds von Gesetz und dem Inhalt des Evangeliums, der Gnade, hat Luther wie folgt beschrieben:
„Ich war unterm Papsttum lange irre, wusste nicht, was ich drinne war. Ich roch wol etwas, wusste aber nicht, was es war, bis so lang, daß ich unter den Spruch kam Röm.1. ‚Der Gerechte lebt seines Glaubens (sc. nicht seiner Werke), der half mir; da sahe ich, von welcher Gerechtigkeit Paulus redet, … (ich) lernet die Gerechtigkeit des Gesetzes von der Gerechtigkeit des Evangeliums unterscheiden.
Aber da ich die Unterscheidung fand, daß eines das Gesetz sei, ein anderes aber das Evangelium (sc. die Gnade), da riß ich her durch.“[2]
Indem Luther zwischen der Gerechtigkeit des Gesetzes und der Gerechtigkeit Gottes, der Gnade, unterschied, d.h. erkannte, daß sie unterschiedlichen existentiellen Dimensionen angehören und keineswegs ein und dem selben Zweck dienen, verwarf er die von den mittelalterlichen Religionen -auf Grund ihres Existenz begründen sollenden religiösen Moralismus -herbeigeführten Mißbrauch des Gesetzes und dessen Werke als den Grund der Existenz legende Mittel.
Der Satz vom Widerspruch und der Satz vom ausgeschlossenen Dritten
Der Existenzmoralismus – von Luther ‚Werkgerechtigkeit‘ genannt – wurde vorrangig von der Lehre der damaligen aristotelischen Philosophie logisch begründet und von der Ecclesia Romana und ihren religiösen Gegnern wie der katharischen Kirche Jesu Christi oder den Waldensern praktiziert.
Gemäß der zweiwertigen Logik des Aristoteles, d.h. u.a. des sog. Satzes vom Widerspruch, wonach eine selbständige Sache gleichzeitig zwei sich widersprechende Eigenschaften haben bzw. zwei sich ausschließende Werte nicht in sich vereinen kann, bestimmt sich der Mensch nach der alternativlos gedachten aristotelischen Gerechtigkeit, die im Gesetz Gestalt annimmt, allein durch entweder gerechte oder durch ungerechte Werke. Auf diese Weise ist der Täter nach seinen Werken jeweils entweder ein nur-Gerechter oder ein nur-Ungerechter.
Diese seine eigene zweiwertig bedingte Gestaltung seiner Existenz, d.h. seine Kultur, bestimmt nach dieser Vorstellung jeweils die ganze Existenz.
Eine davon unabhängige Gnade, d.h. ein unbestimmbarer, damit auch der Zweiwertigkeit nicht unterworfener in sich selbst freier Grund der Existenz, traditionell als Gott oder das Heilige vorgestellt, eine solche Gnade, die als ein sog. Drittes Gerecht- und Ungerechtsein in ein und derselben Person zur gleichen Zeit in sich zulässt, war nach aristotelischen Prinzipien absolut undenkbar.
Aber was der Herrschaftsbereich des Gesetzes, d.h. die vom Geist gesetzten Ziele und Rahmenbedingungen der Gestaltung der Existenz betrifft, teilte Luther mehr oder weniger die Ansicht des Aristoteles.
Da nun gemäß der zweiwertigen Logik des Aristoteles eine Sache oder eine Person nicht zwei sich widersprechende Eigenschaften zugleich haben kann, kann folglich eine Person nicht zugleich gerecht und ungerecht sein.
Daher gilt nach Luther für das Gesetz auch des Aristoteles Satz vom tertium non datur, vom ausgeschlossenen Dritten. In der Metaphysik des Aristoteles heißt es dazu: „Ebenso wenig kann es zwischen den beiden Gliedern des Widerspruchs etwas geben, sondern man muss notwendig jeweils Eines von einem entweder bejahen oder verneinen.“[3]
Es gibt also kein Drittes im Gesetz, das die Gleichzeitigkeit der sich widersprechenden Werte und Sachverhalte aushielte oder gar zuließ.
Aber wenn das Gesetz nur für die Gestaltung der Existenz bzw. Organisation der Welt, für die Kultur, zuständig ist[4], unterscheidet sich Luthers funktionelle Einschränkung des Gesetzes radikal von der Gerechtigkeitsvorstellung des Aristoteles und seiner christlichen Parteigänger. (s.u.)
Der logisch problematische Zeitfaktor im aristotelischen Satz vom Widerspruch
Die Religion im Umfeld Luthers anerkannte die Logik des Aristoteles und löste das logische Problem der Widerspruchsfreiheit des Gesetzes ebenfalls mit dem Zeitfaktor, d.h. der Satz vom Widerspruch hängt, was seine Gültigkeit betrifft, gänzlich von der logischen Berechtigung der Gleichzeitigkeit ab.
Daher sind nach Aristoteles Gerecht- und Ungerechtsein in ein und derselben Person gleichzeitig nicht möglich, wohl aber im zeitlichem Nacheinander: Ein und dieselbe Person befindet sich daher im zeitlichen Nacheinander entweder im Stand des Gerechtseins bzw. – wie es in der mittelalterlichen Kirchenlehre heißt – der gratia infusa, d.h. der eingegossenen Gnade oder aber im gegenteiligen Stand des Ungerechtseins, der gnadenlosen Sünde. Die Entscheidung darüber trifft der Mensch im zeitlichen Nacheinander mit seinen Werken.
Während in der zweiwertigen Religion also Gnade und Sünde nur im zeitlichen Nacheinander möglich sind, diese in ihrem Wechsel jeweils die Totalität der Existenz bestimmen, hat Luther dagegen Sünde und Gnade als zeitunabhängige und nicht veränderbare Konstanten des Grundes der Existenz erkannt.
Nach christlichen Vorstellungen ist die Gnade, welche Jesus Christus erworben hat, allen Menschen von Adam und Eva bis zum Ende der Zeit angeboten. Die Sünde, die erst durch freie Entscheidung der Ureltern hervorgerufen wurde, werde wohl erst am Ende der Zeiten gänzlich aufhören. Sünde und Gnade wechselten sich aber im Nacheinander der Zeit unablässig je nach den aktuellen Werken der Getauften ab.[5]
Für Luther stellte sich aber diese Beziehung von Sünde und Gnade ganz anders dar. Die Gnade ist bereits vom Anfang der Zeit an unbeschränkt wirksam: „Christus ist schon seit Anfang der Welt für die Sünden der ganzen Welt getötet worden, bevor irgendeine Zeremonie da gewesen ist.“[6]
Es geht Luther an dieser Stelle darum, die zweiwertig unzulässige Gleichzeitigkeit von Gnade und Sünde zu Bewußtsein zu bringen. Sünde und Gnade gab es schon, bevor Mose das Ritualgesetz einführte. Dies bedeutet, daß nicht erst mit der Einrichtung von Opferritualen zum Zwecke der Sühne von Übertretungen des Gesetzes ein Eintritt in den Gnadenstand möglich geworden wäre. Denn Sünde und Gnade gab es vor Mose, und es wird sie auch bis zum Jüngsten Tag geben. Luther begründet diese Permanenz der Sünde damit, daß sie die Natur des Menschen sei.[7]
Der Mensch, von dieser seiner Natur angetrieben, will sich durch seine Selbstrechtfertigung und dem Mißbrauch des Gesetzes und dessen Werke an Gottes Stelle setzen, sich selbst vergotten: „Der Mensch will auf Grund seiner Natur nicht wollen, daß Gott Gott ist. Er wollte sogar, selbst Gott sein, und daß Gott nicht Gott sei.“[8]
Das Gesetz des Mose und alle anderen Gesetze der Christen und Heiden haben grundsätzlich mit Sünde und Gnade nichts zu tun. Diese Gesetze sind denn auch nur für die Übertretung und Erfüllung ihrer jeweiligen Vorschriften zuständig. Sünde ist nicht Übertretung des wandelbaren Gesetzes, sondern der Mißbrauch des Gesetzes zum Zwecke der Selbstrechtfertigung, d.h. zur Selbstlegung des Grundes der Existenz bzw. der damit gegebenen Leugnung der bedingungslosen Gnade.
Das theologisch Entscheidende an Luthers Argumentation in diesem Falle besteht darin, daß es kein Nacheinander von Sünde und Gnade gibt. Es gibt nur die ununterbrochene in den Augen des Aristoteles allerdings widersinnige Gleichzeitigkeit derselben vom Anbeginn der Welt bis zu ihrem Ende.
Wenn aber Sünde und Gnade nicht ins Gesetz fallen und damit der verändernden Zeit, ihrem Nacheinander, nicht unterworfen sind, d.h. beide immerwährend gleichzeitig bestehen, dann bedeutet die Verwendung der die Sünde und die Gnade vereinende Vorstellung der Gleichzeitigkeit sich widersprechender Eigenschaften die Erkenntnis, daß der Satz vom Widerspruch nur beschränkte Gültigkeit für die Existenz hat.
Allerdings besteht der Sinn dieser in einem logischen Prozeß an sich unangemessenen weil zeitlichen Vorstellung der Gleichzeitigkeit gerade darin, die Nicht-Zeitlichkeit des simul peccator et iustus auf paradoxe Weise polemisch auszudrücken.
Da Luther keine nicht-zweiwertigen logischen Kategorien in der vom Aristotelismus beherrschten Philosophie seiner Zeit zur Verfügung standen, mußte er paradoxerweise die zeitliche Vorstellung der Gleichzeitigkeit, die ja an sich wie das zeitliche Nacheinander keine logische Kategorie, sondern eine sinnliche Anschauungsform ist, in uneigentlicher Weise, d.h. andersinnig als Paradoxon gebrauchen. Auf diese Weise konnte er aber seinen quasi-logischen Einspruch gegen die logische Anmaßung des Satzes vom Widerspruch, der sich logisch unzulässig der die Sinnlichkeit und das Denken gerade nicht konstituierenden Zeit als pseudo-logisches Mittel zur Fundierung der Zweiwertigkeitslehre bediente, artikulieren.
Luther hat die Gleichzeitigkeit als Waffe verwendet, um die Fixierung von Sünde und Gnade auf das zeitliche Nacheinander aufzuheben. Aber die weitere Folge war die Schlussfolgerung, daß die logische Betrachtung von Sünde und Gnade sich jeder zeitlichen Bestimmung derselben zu enthalten hat.
Aber das Unvermögen der aristotelischen Philosophie, die von Luther mit der Zeitform der Gleichzeitigkeit gemeinte Identität von Gnade und Sünde, die beide Momente allein des Grundes und nicht der Gestaltung der Existenz sind, logisch zu verstehen, erweist den Satz vom Widerspruch und die gesamte aristotelische Logik als untauglich, eine logische Basis für ein Urteil über den Grund der Existenz und damit letztendlich über die ganze Existenz zu fällen.
Der Theologe Luther hat, um das Denken des Grundes der Existenz, d.h. Glaube und Unglaube, quasi-logisch abzusichern, die in Wahrheit allein für die Konstituierung von Vorstellungen zur Gestaltung der Existenz sinnvolle Zeitanschauung als nicht-logische Sinnlichkeit konstituierende Vorstellung gleichsam vorbegrifflich prinzipiell in Frage gestellt.
Auf diese Weise entzog er der Zweiwertigkeit die logische Zuständigkeit für den Grund der Existenz, für die allein dort verorteten existentiellen objektiven Momente Gnade und Sünde und für die entsprechenden subjektiven Bewußtseinsformen Glaube und Unglaube. Indem Luther die Grenze der Logik des Aristoteles transzendierte, befreite er das Denken, hier in der Form der Vorstellung, aus der geistigen Gewalt der Zweiwertigkeit.
Durch diese Befreiung des Denkens bzw. Vorstellens aus der Gewalt der Zweiwertigkeit, konnte er die traditionelle zweiwertige Gottesvorstellung auflösen und als Wesen Gottes, des Grundes der Existenz, die an keine Wertigkeit gebundene Freiheit erkennen. Er hat klargestellt, daß die Kategorien und Zeitbestimmungen nur für die Gestaltung der Existenz taugen; daß Kategorien und Zeitbestimmungen nur Produkte des reinen, d.h. des vergegenständlichenden, aber nicht objektivierten Denkens sind. Es ist das Verdienst Luthers, dies ins existentielle Bewußtsein gerückt zu haben.
Die Existenz kann in ihrem Grunde nicht mehr mit zweiwertiger Logik begriffen oder gar sinnlich bestimmt werden.
Die – wie Aristoteles bekannte – nicht beweisbare Zweiwertigkeit ist nach Luther der vergebliche Versuch, die produktive Unbestimmbarkeit der Existenz, die von allen Lebensäußerungen, den Werken, unabhängige Gnade, in zufällige und willkürliche Bestimmungen zu zwängen, in der Hoffnung, sie dergestalt endgültig eigener Zielsetzung, Planung und Kontrolle unterwerfen zu können.
Doch sind alle definierten ‚Sinngebungen des Lebens‘, alle Gestaltungen der Existenz, alle gewordenen Kulturen, alle historischen Gesetze des Denkens in der Geschichte immer wieder durch die Revolten des Geistes vernichtet und durch neue Menschenbilder und Denkgesetze ersetzt worden. Aber absoluter Grund der Existenz zu werden, ist keiner Gestaltung von Existenz, keinem Werk des Gesetzes, und keinem der gesetzten Denkgesetze gelungen – trotz des Einsatzes roher Gewalt oder sanfter Verführung oder Indizierung alternativen Denkens.
Um Luthers dialektische Theologie, die die Einheit des Widerspruchs von Sünde und Gnade, von Glaube und Unglaube artikuliert, philosophisch auf den Begriff zu bringen, bedurfte es erst einer anderen als der zweiwertigen Logik.
Es war der Lutheraner G.W.F. Hegel, der diese logische Aufgabe meisterte (s.u.).
Die göttlichste Vernunft und die als Hure mißbrauchte Vernunft
In Übereinstimmung mit Aristoteles ist der Kern des Gesetzes auch für Luther die zweiwertige ratio, die von ihm so genannte Vernunft. Nach Aristoteles ist diese zweiwertige Vernunft übermenschlich: „Unter dem Erscheinenden gilt sie als das Göttlichste.“[9] Kein Wunder; denn: „Offenbar denkt sie das Göttlichste und Würdigste.“[10] Wenn aber die zweiwertige ratio gar das Göttlichste ist, dann existiert sie durch sich selbst, unterliegt auch keiner Veränderung, ist jeder Veränderung durch das Denken entzogen, ist sie doch das Denken selbst.
Luther versteht jedoch diese Vernunft, die zweiwertige ratio als ein Geschöpf Gottes, dazu bestimmt, daß der Mensch sich, was die weltlichen Belange betrifft, kritisch anschaue und sich gemäß des zweiwertigen Gesetzes verhalte.
Luther anerkennt also die zweiwertige Vernunft und ihr Gesetz; aber beide gelten wegen ihrer Geschöpflichkeit auch nur – und das ist seine revolutionäre Erkenntnis – für die Kultur, d.h. die Gestaltung der Existenz durch den wie er sagt ‚äußeren‘ Menschen. Nicht aber gelten sie für den sogenannten ‚inneren‘ Menschen, dessen Ort ist der Grund der Existenz, wo allein Glaube und Unglaube, Gnade und Sünde, nicht aber gerechte und ungerechte Werke des Gesetzes von Belang sind.
So heißt es in Luthers Vorlesung über den Galaterbrief des Paulus von Tarsus: „Der Apostel will, daß der Mensch auf Grund des Gesetzes bei den Menschen lebe.“[11]
Der Apostel will aber andererseits, was das Verhältnis Gottes zu den Menschen angeht, „daß die Gerechtigkeit, das Leben und das Heil des Menschen bei Gott der Glaube (sei).“[12] Gerechtigkeit ist daher auch keine Vorbedingung für die Gültigkeit des Glaubens: „Dies bedeutet, daß Gerechtigkeit, Leben und Heil des Menschen bei Gott der Glaube sei, nicht aber sei die Gerechtigkeit vor dem Glauben, sondern durch den Glauben sei Gerechtigkeit und Leben.“[13] Die Gerechtigkeit, um die es hier geht, ist die von Gott bedingungslos geschenkte Gottesgerechtigkeit und nicht die Gerechtigkeit des Gesetzes. Gottes Gerechtigkeit oder seine Rechtfertigung des Sünders dringt allein durch den Glauben hindurch ins Bewußtsein und wird nicht durch Werke des Gesetzes erwirkt. Diese Gottesgerechtigkeit ist daher niemals eher als der Glaube, d.h. niemals durch ohne Glauben getätigte Werke hindurch dem Bewußtsein gegenwärtig. Die Gottesgerechtigkeit als solche kann also nur geglaubt werden und Werke sind Irrwege zum Grund der Existenz.
Luther kritisiert an Aristoteles, daß dieser diesen Irrweg beschreitet und Werke für fähig hält, die Existenz begründende Gerechtigkeit, d.h. Gottesgerechtigkeit, den Grund der Existenz, zu erreichen: „Denn die Gerechtigkeit Gottes wird nicht aufgrund von häufig wiederholten Werken erworben, wie Aristoteles lehrte, sondern durch den Glauben eingegossen.“[14]
Was das Gesetz betrifft, so ist dessen Prinzip die allen Menschen eigene und sie alle verpflichtende gottgegebene das Gesetz ausgestaltende Vernunft.
Zwar ist Aristoteles für Luther, was die ratio angeht, neben Cicero der wichtigste Philosoph. Dies ist er aber nur – und das ist sein Vorbehalt -, wenn dessen Philosophie sich auf die Erklärung und Gestaltung der Welt des ‚äußeren‘ Menschen beschränkt und sich nicht in das Verhältnis Gottes zum ‚inneren‘ Menschen, der an die Gnade Gottes glaubt oder nicht glaubt, einmischt und damit das existentielle Bewußtsein verfälscht.
Luther verurteilt somit Aristoteles keineswegs. Er bewertet dessen Philosophie außerordentlich positiv, insofern sie in den Grenzen der weltlichen Vernunft gehalten wird.
So übernimmt er die aristotelische Definition des ‚äußeren‘ Menschen als eines „zoon logon echōn“, d.h. als das Lebewesen, das Vernunft besitzt: „So muß sie mit Recht als Wesensunterschied bezeichnet werden, durch den der Mensch als Mensch bestimmt wird in Unterscheidung von den Tieren und den sonstigen Dingen.“[15] Er lobt diese Vernunft geradezu überschwänglich: „Sie ist Erfinderin und Lenkerin aller freien Künste, der medizinischen Wissenschaft, der Jurisprudenz und all dessen, was in diesem Leben an Weisheit, Macht, Tüchtigkeit und Herrlichkeit von Menschen besessen wird.“[16]
Ja, Luther begeistert sich so sehr für die Vernunft, daß er sich dazu hinreißen läßt, dieses Geschöpf Gottes als göttlich zu bejubeln: „Und in der Tat ist es wahr, daß die Vernunft die Hauptsache von allem ist, das Beste im Vergleich mit den übrigen Dingen dieses Lebens und geradezu etwas Göttliches.“[17]
Da aber die Welt „des Teufels Wirtshaus“ ist, regieren in ihr Sünde und Unglaube. -Dies gilt gerade auch für Philosophie, Theologie und Religion, haben sie doch Gott, den unbestimmbaren Grund der Existenz, der zweiwertigen Logik unterworfen, und mißbrauchen Vernunft als blasphemisches Mittel, diese zweiwertige Entstellung des Heiligen zu rechtfertigen. Es ist diese mißbrauchte Vernunft, welche Luther als „höchste Hure“., als „des Teufels Braut Ratio“ bezeichnet.
„Unter diesen Umständen (sc. der Sünde) befindet sich jene allerschönste und allerherrlichste Sache, welche in voller Größe die Vernunft auch nach dem Sündenfall geblieben ist, dennoch – so ergibt sich schlüssig – unter der Macht des Teufels.“[18] Daraus folgt: „Die Vernunft ist das größte Hindernis in Bezug auf den Glauben, weil alles Göttliche ihr ungereimt zu sein scheint, dass ich nicht sage, dummes Zeug.“[19]
Luther wird noch deutlicher: Diese Unvernunft bzw. mißbrauchte Vernunft „ist die höchste Hure, die der Teuffel hat.“[20]
Die Anmaßung der aristotelischen ratio besteht in der Behauptung, die absolute Wahrheit der Existenz, der Heilige Geist selbst zu sein: „Aber des Teuffels Braut ratio, die schöne Metze[21], feret herein und will klug sein, und was sie sagt , meinet sie, es sey der heilig Geist.“[22]
Dadurch, daß die zweiwertige Vernunft bzw. Philosophie und Logik in das Verhältnis Gottes zum Menschen eindringen und die unbestimmbare Gnade Gottes, des Grundes der Existenz, durch dessen bestimmendes Gesetz, d.h. durch die Gestaltung der Existenz, d.h. die Kultur, ersetzt und den Glauben zu einem Werk verfälscht, lautet Luthers kompromißloser Ratschlag: „Darumb mus man die Vernunnft hie nicht zu rat nemen, sondern dem heiligen Geist die ehre geben, das, was er redet, die Göttliche wahrheit sey, und seinen worten gleuben, in des die augen der Vernunnft blenden, ja, sogar ausstechen.“[23] All dies ist notwendig, um der „geistlichen Hurerey“[24] d.h. der Werkgerechtigkeit zu entgehen.
Es ist die vom Unglauben mißbrauchte und nicht die gleichsam göttliche Vernunft, die von Luther angeprangert wird.
Zu oft wird diese essentielle Unterscheidung nicht beachtet und widersinnigerweise Luther zum Feind der Vernunft erklärt. Doch war es Luther, der die von Gott gegebene Vernunft unterschiedslos allen Menschen als verbindliches Mittel der Gestaltung der Existenz zurückgegeben und gleichzeitig ihren Mißbrauch als Mittel zur vergeblichen Selbstgrundlegung der Existenz in allen Religionen angezeigt hat.
Daher gilt es festzuhalten, daß das rechte Verhältnis Gottes zum Menschen im Evangelium zur Sprache gebracht wird. Im Evangelium erschließt sich das Bewußtsein der Erkenntnis, daß Gott, der Grund der Existenz, den Inhalt seines Verhältnisses zum ‚inneren‘ Menschen als von ihm einseitig gewährte unbedingte Gnade bestimmt hat. Gesetz und Werk, gesetzte Zwecke und ihre Mittel haben hierfür keine Bedeutung. Anders gesagt: Die Gestaltung der Existenz bestimmt nicht den Grund der Existenz. Dies meint aber der Unglaube.
Wenn aber die vom Evangelium zur Sprache gebrachte bedingungslose Gnade Gottes zu einem sogenannten besseren Gesetz pervertiert und damit der Zweiwertigkeit unterworfen wird, dann ist die aristotelische Logik für Luther zur Logik des Unglaubens, zur Teufelslogik, mutiert.
Das bedeutet schließlich, daß Gott, wenn selbst er der zweiwertigen Logik unterworfen wäre, d.h. selbst er nur noch zweiwertig denken und handeln könnte, er damit seine absolute Freiheit und Unbestimmbarkeit verloren hätte, keine Gnade schenken könnte und nur noch als Vollstrecker des Gesetzes, seines eigenen Geschöpfes, zu fungieren hätte.
Die absolute Zweiwertigkeit als Unglaube
Die der Zweiwertigkeit verpflichtete Bewußtseinsform, die diese Verzerrung Gottes und seiner Gnade, des Grundes der Existenz und seiner Unbestimmbarkeit, zum Inhalt hat, nur dies bezeichnet Luther als Unglaube. Unglaube meint nicht irgendwelche Ansichten, die vom jeweiligen und zufälligen religionskulturellen Mainstream abweichen. Das heißt aber auch, daß die formelle Partizipation an einer bestimmten Religionskultur (Lehre, Gemeinschaft. Ritual), die sich als rechtmäßig bezeichnet, nichts darüber besagt, ob sie Glaube an die bedingungslose Gnade bejaht bzw. verneint. Die Unterscheidung von Gesetz und seinen guten bzw. bösen Werken und Gnade samt dem Glauben an sie oder Unglauben muß daher stets und immer wieder neu im Einzelnen in allen Religionen und sonstigen Existenzdeutungen kritisch bedacht werden.
Unglaube liegt, wie immer er sich kulturell darstellt, ob als Moralismus, Sukzessionismus, Atheismus, Szientismus oder wie immer solche Formen des Unglaubens heißen oder nicht heißen mögen, wenn das Bewußtsein die Unbestimmbarkeit als Wesen des Grundes der Existenz bewußt oder unbewußt negiert und die Zweiwertigkeit als einzige Wahrheit der ganzen Existenz unterstellt.
Die die Existenz total bestimmende Zweiwertigkeit ist denn auch der Grund dafür, daß Luther Aristoteles einen „Narristoteles“ genannt hat. Aber diese Verspottung bezieht sich nur darauf, daß der Philosoph mit seiner zweiwertigen Logik ein Existenzverständnis rechtfertigt, das den Anspruch erhebt, die ganze Existenz zu bestimmen:
Kurz und bündig bringt Luther diese seine Kritik an der zweiwertigen Philosophie auf den Punkt: „Des Aristoteles Ethik ist die schädlichste Feindin der Gnade „.[25] Denn dessen die Ethik bestimmende Logik verneint die Wahrheit der Einheit des Widerspruchs innerhalb der Existenz, heißt es doch in der Metaphysik: „Das Gegenteil aber kann nicht zugleich wahr sein.“[26] Weiterhin heißt es: „Hieraus erhellt denn, daß unmöglich die entgegengesetzten Aussagen über dasselbe (sc. Ding) zur selben Zeit wahr sein können.“[27]
Simul peccator et iustus – Sünder und Gerechter zugleich
Auf genau diese logischen Sätze bezieht sich der Aristoteleskenner Luther, wenn er sein neues Existenzbewußtsein artikulierend gegen Aristoteles statuiert:
Simul peccator et iustus – zugleich Sünder und Gerechter; der Mensch ist „simul peccator et iustus; peccator in re vera, Sed iustus in reputatione et promissione Dei certa“[28], d.h. „gleichzeitig Sünder und Gerechter, ein Sünder der Tatsache nach, ein Gerechter auf Grund der gewissen Rechnung und Verheißung Gottes“:
Dieser Mensch, dessen eigene Natur und Wirklichkeit die Sünde ist, ist aber zugleich ein Gerechter, weil Gott ihm zusichert, die Rechnung für alle Sünde zu begleichen. Diese Vorstellung erklärt der zweiwertigen Gesetzesreligion, daß damit die Gerechtigkeit dem Menschen zu Recht zukommt. Dadurch aber, daß der Sünder zugleich ein Gerechter ist, erkannte Luther, daß das von der aristotelischen Logik ausgeschlossene Existieren im Widerspruch die Wahrheit der Existenz ausmacht, daß jene Logik für den Grund der Existenz, d.h. die göttliche Gnade, die göttliche Begleichung der Rechnung des Sünders keine Geltung hat. Eine Logik, die der Grundwirklichkeit der Existenz angemessen ist, muß also die Grenzen der Zweiwertigkeit sprengen.
Und diese neue Logik, die dem für zweiwertiges Denken grundlegenden Satz vom Widerspruch widerspricht, besingt Luther auf geradezu hymnische Weise: „Wundersam also und wundersüß ist Gottes Barmherzigkeit, der uns zugleich als Sünder und Nicht-Sünder ansieht. Zugleich bleibt die Sünde und bleibt sie nicht:“[29] Und dann fährt er mit einem unerhörten Satz fort: „Er hält die Gottlosen für Gerechte und Ungerechte. Ihre Sünde wird entfernt und zugleich nicht entfernt.“[30]
Dies ist für die aristotelische Logik ein geradezu monströser Widersinn. Wie kann denn eine Person zugleich gerecht und ungerecht sein, wenn etwas A und gleichzeitig das Gegenteil von A sein kann. Es gilt doch nach Aristoteles das Axiom des Denkens: „Daß nämlich dasselbe demselben in derselben Beziehung (…) unmöglich zugleich zukommen und nicht zukommen kann, ist das sicherste unter allen Prinzipien; … da es unmöglich ist, dass jemand annehme, dasselbe sei und sei nicht.“[31]
Dem Menschen wird dieser in der zweiwertigen Welt unauflösbare Widerspruch seiner Existenz, daß er „simul peccator et iustus “ – Gerechter und Sünder zugleich ist, allein im Glauben, der sich auf kein Werk stützt, als Realität bewußt.
Diese Form existentiellen Bewußtseins denkt das der Zweiwertigkeit logisch Undenkbare: die Gleichzeitigkeit von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit in ein und derselben Person.
Indem Luther diesen Widerspruch als existenzkonstitutiv begriff, ließ er die scholastische Zweiwertigkeit hinter sich und schuf eine wahrhaft dialektische Theologie.
Vom Mißbrauch des Glaubens
Um diese erkannte Dialektik der vom Glauben an die Gnade ausgehaltenen Existenz des simul peccator et iustus nicht wieder auszuhöhlen oder gar pervertieren zu lassen, mußte Luther besonders seinen neuen dialektischen Glaubensbegriff klar und eindeutig definieren.
Glaube ist weder ein gerechtes Werk noch ein vom Gesetz geforderter bzw. verbotener Akt: Glaube gehört überhaupt nicht in den Zuständigkeitsbereich des Gesetzes. Den Glauben geht das Gesetz nichts an. Deshalb schob Luther von vorneherein jeglicher zweiwertigen Verfälschung des dialektischen Glaubensbegriffs einen Riegel vor: „Wenn kein Werk rechtfertigt, dann rechtfertigt auch der Glaube nicht, insofern er ein Werk ist. Aber der Glaube ist kein Werk.“[32]
In der Begründung dafür statuiert er kompromisslos, daß Glaube nur ein fremdes Geschenk ist, das als solches konstitutiv zur Identität gehört; währenddessen die zweiwertige Religion statt auf Glauben an die Gnade auf Werke rationalen Kalküls oder willensbedingter Meinung als Identitätsgrund setzt: „Es ist allein Gottes (Sache), den Glauben gegen die Natur zu verleihen, gegen das Berechnen und Glauben (credere). Es ist allein das Werk Gottes, daß ich Gott liebe. Auch wenn es ein Werk ist, daß ich glaube (credo), darf es dennoch nicht Werk genannt werden. Wir müssen also jedwedes Wort in seiner (Bedeutungs-) Klasse belassen, damit die (gemeinte) Sache nicht verwirrt wird. Es darf keine Verwirrung mit diesen Worten geschehen, weil der Glaube kein Werk ist, noch das Werk Glaube, sondern der Glaube ist Geschenk Gottes, weshalb er nicht Werk genannt werden darf; folglich dürfen wir die Worte Werke und Glauben nicht durcheinander werfen.“[33]
Luther zeigt hier, wie schwer es ist, in einer zweiwertigen Weltanschauung eine angemessene Formulierung einer nicht-zweiwertigen Glaubensvorstellung zu finden. Er muß sich einer theologischen Sprachtradition bedienen, die im absoluten Gegensatz zu seiner eigenen Sache steht.
Die Sache Luthers ist: Die vom Glauben geglaubte Gottesgerechtigkeit, d.h. die freie Liebe zu Gott, ist niemals ein Akt eigener Existenzgestaltung, sondern eine gegebene Wirklichkeit des Grundes der Existenz, die jederzeit im Glauben als geschenktes Fremdgut entdeckt werden kann . Die sog. Gottesliebe ist, wenn sie als eigenes Werk verstanden wird, die größte Sünde, da sie sich als Werk selbst begründen will und dadurch die fremde Gnade des Glaubens, d.h. die fremdgeschenkte Liebe zu Gott, überflüssig macht.
Die selbsterzeugte Gottesliebe ist daher Sünde: „Gott natürlicherweise über alles zu lieben, ist eine erdichtete Vorstellung. Der Akt der Gottesfreundschaft ist nicht eine solche der Natur (des Menschen), sondern der zuvorlaufenden Gnade: … Es ist nicht ein Akt der Natur (des Menschen), sondern höchstens ein Akt der Gier gegenüber Gott. Jeder Akt der Gier auf Gott ist aber böse und eine Hurerei des Geistes.“[34]
Freie Gottesliebe bedeutet die Vollkommenheit der Existenz. Wenn diese geschenkt wird, d.h. Gnade ist, dann ist die Vollkommenheit der Existenz unabhängig von allen Werken. Die Existenz bedarf dann keines eigenen Begründungwerks.
Dieser Gegebenheit widerspricht aber die Natur des Menschen, so auch seine ratio, die die Existenz durch Berechnen und Herstellen zu begründen sucht: Diese Natur vergreift sich sogar am Glauben, insofern sie ihn nicht als Geschenk, sondern als eigenes Werk versteht, und durch dieses widersinnige ‚Glaubenswerk‘ den Glauben zum Unglauben mutiert.
Der Unglaube aber hält einen werkfreien Glauben, der sich als fremdes Geschenk versteht, für ein Unding. Er hat denn auch nicht nur ein anderes Glaubensverständnis, sondern auch einen ganz anderen Sündenbegriff. Er verbindet mit Sünde bzw. Ungerechtigkeit ein dem Gesetz widersprechendes, d.h. in diesem Sinne ungerechtes Verhalten, während er unter Gerechtigkeit ein dem Gesetz entsprechendes gerechtes Verhalten versteht.
Der Unglaube will selbst mit Hilfe der Werke des Gesetzes den Grund der Existenz legen. Er will so die Vollkommenheit der Existenz erreichen oder sich so wie es in der zweiwertigen Religion heißt die Gnade verschaffen. Der Unglaube meint durch die heiligen Werke, die Sakramente, dieses Ziel erreichen zu können, d.h. indem man sich der Taufe unterzieht, danach sich diese Gnade durch Erbringung von guten Werken und Vermeidung von bösen Werken erhält oder sie erst gar nicht gewinnt bzw. wieder gänzlich verliert. Damit aber, mit dem Mißbrauch der Sakramente ganz besonders, stellt der Unglaube das zweiwertige Gesetz über die werkfreie Gnade, den freien Grund der Existenz, und erniedrigt so den gnädigen Gott zum bloßen Richter, Henker oder Mundschenk der Zweiwertigkeit.
Da aber die von Werken unabhängige Gnade, sowohl den Glauben an die Gnade als auch seinen Unterschied, d.h. die Sünde und ihren Unglauben, zur Identität des Menschen zusammenbindet, ist diese Identität dialektischer Natur, lebt sie doch gerade vom Widerspruch in sich.
Identität im extra nos
Die Identität des Sünders im Sinne Luthers, die aristotelisch auf sich selbst gründet, hat ihre Ursache darin, daß der Sünder als Sünder incurvatus in se, „ein in sich verkrümmtes“ Geschöpf ist, das daher alles, auch bewusstlos, auf sich bezieht und an sich reißt: „Unsere Natur ist durch den Fehler der ersten Sünde so abgrundtief in sich selbst verbohrt, daß sie nicht allein die besten Gaben Gottes an sich zieht und eben dieselben genießt, ja sogar auch Gott selbst dazu benutzt, jene Gaben zu gewinnen, aber auch dies noch nicht einmal zur Kenntnis nimmt, daß sie (sc. die Natur) so ungerecht, verkrümmt und verkehrt alles, wie es bei den Geldverwaltern und Heuchlern üblich ist, nur um ihrer selbst willen sucht.“[35]
Auf Grund eines Ganz-Anderen zu existieren, darin seine Identität zu erkennen, verbietet dem in sich verkrümmten Unglauben die von der Zweiwertigkeit erzeugte Selbstabhängigkeit seines existentiellen Bewußtseins. Der Unglaube fordert daher unerbittlich von sich selbst eigene vermeintlich Existenz begründende Werke.
Aristoteles lehrte, daß ein Gegenstand, in diesem Fall der Mensch, sein Wesen in nichts anderem habe als in sich selbst: „Etwas als Wesen eines Dinges bezeichnen heißt aussagen, daß es sein eigentümliches Wesen in nichts anderem habe.“[36]
Luther hat diese auf sich selbst, auf die eigenen Werke allein bezogene Identitätsvorstellung des incurvatus in se mit seiner theologischen Formel extra nos eine Alternative zur Selbstabhängigkeit des Unglaubens entwickelt:
„Und dies ist der Grund, warum unsere Theologie richtig ist. Weil sie uns von uns entführt und uns außerhalb unser (extra nos) stellt, daß wir uns nicht auf die Kräfte, das Gewissen, den Verstand, eine Person, auf unsere Werke stützen, sondern darauf, was extra nos ist. Das heißt auf die Verheißung und Wahrhaftigkeit Gottes (sc. zu setzen), welche nicht täuschen kann.“[37]
Diese Identität besteht in der Entfernung des von sich selbst, seinen tatsächlichen Lebensäußerungen abhängigen Selbstbegründers der Existenz und damit in der Freiheit von existentiellem Autismus. Diese freie Identitätsform kann deswegen auch die Sünde, die meint sich selbst begründen zu müssen, in sich einschließt und aushält.
Ein weiterer zentraler theologischer Begriff Luthers, der die Ungültigkeit der Zweiwertigkeitsidee für den Begriff des Verhältnisses des Gottes zu den Menschen demonstriert, lautet: „Die (sc. Person) wird aber nicht durch Gebote und Werke, sondern durch Gottes Wort (das ist durch seine Verheißung der Gnade) und den Glauben gerecht und selig, damit die göttliche Ehre Bestand habe, in der er uns nicht durch unser Werk, sondern durch sein gnädiges Wort umsonst und in reiner Barmherzigkeit selig mache.“[38] Weiter heißt es: „Wohlan, mein Gott hat mir unwürdigem, verdammtem Menschen ohne alles Verdienst, rein umsonst und aus bloßer Barmherzigkeit durch und in Christus vollen Reichtum der Gerechtigkeit und Seligkeit gegeben, so dass ich weiterhin nicht mehr brauche als glauben, es sei so.“[39] Weiter heißt es: „Wohlan, mein Gott hat mir unwürdigem, verdammtem Menschen ohne alles Verdienst, rein umsonst und aus bloßer Barmherzigkeit durch und in Christus vollen Reichtum der Gerechtigkeit und Seligkeit gegeben, so dass ich weiterhin nicht mehr brauche als glauben, es sei so.“[40]
Umsonst ist die Existenz
Der Grund der Existenz ist somit bar jeder Notwendigkeit, durch Arbeit produziert zu werden. Um aber zu verhindern, daß das unausrottbare zweiwertige Vorstellen doch wieder Bedingungen für die Seligkeit, für die Vollkommenheit der Existenz, stellt, gebraucht Luther ein Wort, welches den radikalen Bruch mit der zweiwertigen Werkgerechtigkeit ausdrückt: Umsonst.
Umsonst ist nach Luther das Fundament der Existenz, umsonst ist die Gnade, für die Zweiwertigkeitsreligion damit ohne jeden Wert. Unbewertbarkeit zeichnet den Grund der Existenz aus.
Der Glaube erkennt das Umsonst als Grund der Existenz, aber gleichzeitig die eigene unvermeidliche Identitätsbehauptung, welche den existentiellen Widerspruch negieren und ein den Widerspruch ermöglichendes Drittes ausschließen will.
Die Idee der freien, d.h. dem zweiwertigen Gesetz nicht unterworfenen Gnade, die Freiheit des Grundes der Existenz, hebt also die abstrakte Identität des incurvatus in se, der Selbstgerechtigkeit, ebenso das Verbot des Widerspruchs und des tertium non datur für den Grund der Existenz gänzlich auf.
Der aristotelische Schrecken vor der Freiheit der Gnade, des Grundes der Existenz
Die dialektische Überholung der aristotelischen Logik zeigt, was den Grund der Existenz angeht, klar und deutlich, daß sich in der Sicht Luthers das geistige Leben in der bleibenden Spannung des existentiellen Widerspruchs vollzieht und somit Zweiwertigkeit als Organisationsprinzip der ganzen Existenz dem Schrecken vor der Freiheit der Gnade, der letztendlichen Nichtbestimmbarkeit der Existenz, entspringt.
In Auseinandersetzung mit der Religion und Philosophie der Zweiwertigkeit hat Luthers dialektische Theologie die aristotelischen Sätze von der selbstkonstitutiven Identität, vom Widerspruch und vom ausgeschlossenen Dritten außer Kraft gesetzt, um im Bewußtsein Raum für den unbestimmbaren, unbewertbaren und unendlichen Grund der Existenz und dem ihm entsprechenden Glauben zu schaffen.
II. Zur logischen Reformulierbarkeit der dialektischen Theologie Luthers durch G. W. F. Hegels Logik
Es war Hegel, der die aristotelische Zweiwertigkeitslogik einer prinzipiellen Kritik unterzog und sie durch die mehrwertige dialektische Logik ersetzte.
Auf Grund dieser neuen Logik, welche die Dialektik als Grund der Wirklichkeit begriff, konnte das existentielle Problem, das Luther mit der Bewußtseinsform ‚Glaube‘ die im Gegensatz zur Bewußtseinsform ‚Sünde‘ den Widerspruch der Existenz, nl. die Möglichkeit gleichzeitiger Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, erkannte und aushielt, erstmals auf den Begriff gebracht werden:
In seiner Wissenschaft der Logik heißt es dazu: „Das spekulative Denken besteht nur darin, daß das Denken den Widerspruch und in ihm sich selbst festhält, nicht aber, daß es sich, wie es dem Vorstellen geht, von ihm beherrschen und durch ihn sich seine Bestimmungen nur in andere oder in nichts auflösen läßt.“[41]
In der Theologie Luthers stellt sich die Sache dergestalt dar: Die Sünde wird allein von der vorstellenden Zweiwertigkeitslogik, was die Totalität der Existenz betrifft, bestimmt. Sie kann daher den Widerspruch der Existenz weder erkennen noch ertragen. Sie denkt nicht spekulativ, kann daher die dialektische Wahrheit nicht erfassen, beschränkt sich selbst auf die selbsterzeugten sog. Denkgesetze der Zweiwertigkeitslogik.
Aber gerade weil sich „Sünde“ der logischen Möglichkeit der Einheit des existentiellen Widerspruchs nicht stellt, wird sie von dem die Gleichzeitigkeit von Etwas und dessen Gegenteil, d.h. alles Andere als Etwas ausschließenden Satz vom Widerspruch beherrscht. Indem die Sünde der Idee der – wie Aristoteles selbst zugibt – unbegründbaren Axiomatik der Zweiwertigkeit folgt, behauptet sie, daß die Idee der dialektischen Einheit von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit als etwas völlig Anderes, Fremdes, Absurdes und daher gänzlich Ungültiges, ja als Undenkbares angesehen werden müsse. Der Glaube sei daher irrational und somit nichtig, denn er widerspreche klar und eindeutig den ehernen, wenn auch unbeweisbaren Gesetzen der Zweiwertigkeitslogik.
Das spekulative bzw. dialektische Denken, das den Grund der Existenz, den Geist selbst, der sich selbst zum Gegenstand hat, erkennt dagegen den aristotelisch verpönten Widerspruch als Motor, als Bewegungsprinzip, der Lebendigkeit der Existenz. Währenddessen die Zweiwertigkeit der Existenz das Leben raubt und sie zwingt, auf dem Prokrustesbett ausgewählter und zufälliger logischer Kategorien, Sätze und Denkgesetze zu liegen – dies noch unter Verwendung der Zeit als einer pseudo-logischen Schlüsselvorstellung.
Der Glaube im Sinne Luthers behauptet die Gleichzeitigkeit der apriorischen Gerechtigkeit und der Sündhaftigkeit der Existenz und ihrer beider dialektische Einheit. Sünde muß auf Grund ihrer Axiomatisierung der Zweiwertigkeit, auf Grund der von ihr vorausgesetzten Logik des Aristoteles, schon die Möglichkeit der Einheit des Widerspruchs als Wahrheit der Existenz ausschließen. Für die Sünde ergibt sich daraus, daß der Mensch sich zwischen zwei Werten der Gerechtigkeit bzw. Ungerechtigkeit zu entscheiden habe, und die jeweilige Entscheidung, sein jeweiliges Werk, seine Existenz begründe. Die jeweilige Entscheidung führe Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit der totalen Existenz herbei. Beide Werte bzw. Qualitäten könnten in einer Person nicht gleichzeitig, sondern nur nacheinander vorhanden sein.
Es ist die Logik des Aristoteles, insb. der sog. Satz vom Widerspruch, welcher der Sünde den Schein logischer Plausibilität verleiht.
Es war Hegel, der die von Aristoteles formulierten und als absolut gültigen und damit unbegründbaren Denkgesetze bzw. Axiome in seiner Wissenschaft der Logik in Frage stellte. Das Denken ist vielmehr der Urheber seiner selbst und gibt sich selbst Gesetze. Dies aber heißt, daß das Denken sich jederzeit andere Gesetze geben kann, denen es dennoch nicht unterworfen ist.
Nach Hegel bringt die Logik des Aristoteles Denkkategorien hervor, die nicht halten, was sie versprechen. Die statisch d.h. widerspruchsfrei verstandenen Kategorien sind streng logisch betrachtet in sich vielmehr durch Widerspruch bestimmt und haben ihre Wahrheit in der durch den inneren Widerspruch erzeugten Bewegung, die Einheit des Widerspruchs, d.h. das Werden, dem von Aristoteles ausgeschlossenen Dritten. Diese dialektische Logik schuf nun eine logische Basis für die theologischen Grundbegriffe Luthers (Gnade, Glaube und Sünde).
Luthers Kritik an Aristoteles implizierte nicht nur die Kritik des Satzes vom Widerspruch, sondern auch die des aristotelischen Satzes der Identität. Das Thema der Identität handelt Luther unter dem Begriff der Person ab. Sie ist Identitätsträger, deren Identität aber gerade ihren Unterschied in sich trägt. Die Gleichzeitigkeit von Gerechtigkeit und ihrem Unterschied der Ungerechtigkeit bzw. die Umkehrung derselben machen nach Luther die Person, d.h. ihre wahre Identität aus.
Gemäß des aristotelischen Satzes der Identität ist Etwas ein solches nur, insofern es allein aus sich selbst besteht und nicht in einem Anderen gründet.
Hegel bezeichnet die vom abstrakten Verstand[42], der aristotelischen ratio, erzeugte Identitätsvorstellung als abstrakte Identität, da sie vom logisch notwendigen Unterschied abstrahiert und keinen Unterschied zu sich selbst in sich duldet. Dies aber hat zur Folge, daß solche Identität starr und tot ist: „Die abstrakte Identität mit sich ist noch keine Lebendigkeit, sondern daß das Positive an sich selbst die Negativität ist, dadurch geht es außer sich und setzt sich in Veränderung.“[43]
Weil aber in der abstrakten Identität die notwendig zu denkende Nicht-Identität nicht mitgedacht wird, dann führt das dazu, daß die Identität gar nicht verstanden werden kann; oder anders gesagt, daß die positive Identität ihrer notwendigen Negativität beraubt ist. Dies aber bedeutet in der Perspektive der dialektischen Philosophie Hegels den Stillstand und Untergang der Existenz. So heißt es in der Wissenschaft der Logik: „Wenn aber ein Existierendes nicht in seiner positiven Bestimmung zugleich über seine negative überzugreifen und eine in der anderen festzuhalten, den Widerspruch nicht in ihm selbst zu haben vermag, so ist es nicht die lebendige Einheit selbst, nicht Grund, sondern geht in dem Widerspruche zugrunde.“[44]
Zu Grunde geht die isoliert gedachte und so verselbständigte Sünde, weil sie ihr Gegenteil, ihr Negatives, d.h. den Glauben, der die Gnade, die die Einheit des existentiellen Widerspruchs ermöglicht, nicht wahrnehmen bzw. ertragen kann.
Die Unfähigkeit und der Unwille der Sünde, den Widerspruch in sich zu ertragen, führen dazu, daß die Existenz ihre Lebenskraft einbüßt.
Die abstrakte Verstandesidentität zeichnet sich nach Hegel also gerade dadurch aus, daß sie sich der Wahrheit der Existenz entziehen will, indem sie den aus ihrem Begriffe notwendig resultierenden Unterschied aus dem Bewußtsein zu streichen sich aufzwingt. Daher gilt: „Formelle oder Verstandesidentität ist diese Identität, insofern an ihr festgehalten und von dem Unterschiede abstrahiert wird.“[45] Identität ist aber der unauslöschbare Gegensatz zum Unterschied; denn wird das Eine, die Identität, gesetzt, so ist das Andere, der Unterschied, mitgesetzt. Der Begriff der Identität macht ohne den Begriff des Unterschieds keinen Sinn.
An die Stelle der vom abstrahierenden und isolierenden Verstand gesetzten abstrakten, und daher unlogischen Identität, setzte Hegel die konkrete Identität, in der sich beide Momente des Widerspruchs – zu dialektischer Einheit zusammengewachsen – aufheben.
Hegel zeigt, wie der Verstand seine abstrakte Identitätsvorstellung produziert: „Oder die Abstraktion ist vielmehr das Setzen dieser formellen Identität, die Verwandlung eines in sich Konkreten in diese Form der Einfachheit, – es sei, daß ein Teil des am Konkreten vorhandenen Mannigfaltigen weggelassen (durch das sogenannte Analysieren) und nur eines derselben herausgenommen wird, oder daß mit Weglassung ihrer Verschiedenheit die mannigfaltigen Bestimmtheiten in eine zusammengezogen werden.“[46]
Hegels Revision der traditionellen Logik hat also Interpretamente zur Verfügung gestellt, die nunmehr Luthers theologische Kritik auch an der aristotelischen, d.h. abstrakten Identität logisch erklärt. In seiner Kritik hatte Luther die Selbstabstraktion des incurvatus in se erkannt. Indem er aber die Formeln extra nos und umsonst, d.h. das Sich-Nicht-Festhalten an sich, als Konstituenten der Existenz begriff, setzte er den Unterschied innerhalb der Identität; aber es fehlte ihm zu seiner Zeit noch die Darstellbarkeit seiner theologischen Position in Begriffen außerhalb der Zweiwertigkeitslogik.
Der existentielle Widerspruch von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, den die Kraft des Glaubens, die gleichzeitig Glauben und sein Gegenteil, die Sünde, auf Grund der Gnade erträgt, die nach dem aristotelischen Satz vom ausgeschlossenen Dritten, logisch unmöglich sein soll. Aber dieses Dritte Luthers verleiht der Existenz erst ihre Lebendigkeit: Hegel läßt keinen Zweifel daran: „Etwas ist also lebendig, nur insofern es den Widerspruch in sich enthält, und zwar diese Kraft ist, den Widerspruch in sich zu fassen und auszuhalten.“[47]
Es ist „die Vernunft, das Vermögen des Unbedingten„[48], die im Gegensatz zur aristotelischen ratio, die Hegel stets Verstand nennt, verhindert, daß das Denken auf eine seiner historischen Formen, hier des beschränkten Verstandes, eingeschränkt wird. Die Vernunft sorgt dafür, daß die Unbeschränktheit des Denkens, und damit die logische Möglichkeit der Einheit des Widerspruchs, d.h. die Lebendigkeit der Existenz, erklärbar wird.
Wider die aristotelische Logik, die das Denken überhaupt von ihren eigenen vorgegebenen Denkgesetzen, d.h. ihren eigenen Produkten, bestimmt sein läßt und dadurch von sich abhängig macht, entwickelte Hegel die Logik der absoluten Freiheit des Denkens, die er klar und eindeutig in seiner Definition der logischen Idee zum Ausdruck gebracht hat: „Die Idee ist das Denken nicht als formales, sondern als die sich entwickelnde Totalität seiner eigentümlichen Bestimmungen und Gesetze, die es sich selbst gibt, nicht schon hat und in sich vorfindet.“[49]
Damit hat Hegel das wie Aristoteles selber sagt unbeweisbare Axiom bzw. Dogma der Zweiwertigkeit aufgehoben und zugleich Luthers in Form der Vorstellung ausgedrückte existentielle Grunderkenntnis der dialektischen Einheit von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit im Glauben mittels der Gnade der transrationalen, d.h. den beschränkten, weil zweiwertigen Verstand transzendierende und diesen begreifende Vernunft erschlossen.
Luthers Eingrenzung der ratio, des Verstandes, wofür er im Gegensatz zu Hegel das Wort Vernunft verwendet, auf die innerweltlichen Belange und die Notwendigkeit des Verstandes und seiner Gesetze zur Gestaltung der Existenz, der Welt, wird von Hegel mit dem bekannten Satz klar und eindeutig philosophisch formuliert: „Die Gesetze sind die Bestimmungen des der Welt selber innewohnenden Verstandes; in ihnen findet daher das verständige Bewußtsein seine eigene Natur wieder und wird somit sich selber gegenständlich.“[50]
Der Verstand ist zuständig für die Welt, die er als verständiges Bewußtsein mit den von ihm selbst gesetzten Prinzipien, eben Gesetzen, insbesondere dem Satz vom Widerspruch, zu verstehen und zu gestalten versucht. Währenddessen die Vernunft, das spekulative bzw. dialektische Denken, sich selbst und damit auch ihrem Abkömmling Verstand und dessen Welt als Produkt der Freiheit des Denkens begreift. Die Vernunft versteht den Widerspruch zwischen der absoluten Freiheit der Existenz und deren Sich-Selbst-Bestimmen. Diese Selbstbestimmung jedoch hält den Widerspruch nicht aus und versucht vergebens ihn zu vernichten, indem sie die ganze Existenz dem zweiwertigen Gesetz des Verstandes unterwirft. Doch gleich dem vorstellenden Glauben erträgt die denkende Vernunft den Widerspruch der Existenz kraft der absoluten Freiheit des Geistes.
Es ist der in seinem Wesen unbestimmbare, absolute Geist, der in der Bewußtseinsform Vernunft dem Zwang der Zweiwertigkeit Grenzen setzt und dem Menschen in seiner vom Gesetz des Verstandes beherrschten Welt das Wissen um die Absolutheit, Freiheit und Nichtkalkulierbarkeit und damit seine wahre Identität im Widerspruch seiner Freiheit als Identität und seiner Unfreiheit als Nicht-Identität vor Augen hält.
Luther hat die logische Revolution, die Hegel in der Philosophie ausgelöst hat, mit seiner Theologie des simul peccator et iustus, d.h. mit seiner grundsätzlichen Kritik des existentiellen Totalitätsanspruchs des Zweiwertigkeitsdogmas der aristotelischen Logik gleichsam vorformuliert.
Da wundert es nicht, daß sich die dialektische Logik des Lutheraners Hegel gleichsam als logisches Spiegelbild der dialektischen Theologie Luthers erweist.
Hegel folgt demnach nicht zweiwertigen Weltanschauungen, die sich für rational erklären, die Religion aber als irrational. Er erkannte, daß dies eine künstliche Trennung ist, welche die Arbeit des Geistes auf aktuell favorisierte Anschauungen fixiert und alle anderen Formen der grundlegenden Geistesarbeit als Unsinn abtut. Alle Formen solcher Geistestätigkeit, z.B. mythischer Art, gelten Hegel grundsätzlich als gleichwertig, weil sie Ausdruck des allen Menschen gemeinsamen Geistes sind – ein Geist, welcher in unterschiedlichen Formen sich selbst hervorbringt.
Dieser Grundgedanke hielt Hegel davon ab, elitärer intellektueller Zweiwertigkeit zu verfallen. Er entwickelte stattdessen die These von der dialektischen Einheit der fundamentalen Geistesformen Kunst, Religion und Philosophie – Diese Geistesformen bearbeiten ein und denselben Gegenstand; jene erschließt ihn dem Gefühl als das Schöne, diese der inneren Vorstellung als das Heilige und letztere dem Denken als das Absolute.
Hegel begriff, daß gerade in den äußeren Darstellungen der Kunst und erst recht in den inneren Vorstellungen der Religion der eine menschliche Geist sich mit der Dialektik seiner Existenz zwischen unbestimmbarem Grund und sich bestimmender Gestaltung der Existenz auseinandersetzt.
Diese Arbeit des Geistes, d.h. des reinen Denkens, das sich von seinen Produkten, den von ihm erzeugten Denkgesetzen und sonstigem Gedachten, unterscheidet, kann auf Grund der absoluten Freiheit des reinen Denkens in der Praxis, d.h. in der Gestaltung der Grundprinzipien der Existenz zum einen zu Religionen führen, deren Inhalt Werkgerechtigkeit bzw. Karmismus ist, indem sie den Widerspruch der Exstenz nicht ertragen, oder aber zum anderen zu Gnadenreligionen, welche die existentielle Dialektik in sich fest- und auszuhalten versuchen.
Luther hat nach Jahrhunderten der Herrschaft der Zweiwertigkeit in Philosophie und Religion Europas eine theologische Bresche zu Gunsten der Gnade als Raum der dialektischen Existenz geschlagen; Hegel hat diese Vorstellung philosophisch umfassend ausgearbeitet, systematisch weiterentwickelt und damit weltgeschichtliche Wirkung erzielt.
III. Zusammenfassung
Luther und Hegel haben beide in unterschiedlichen Zeiten und mit unterschiedlichen Geistesformen das Existieren im Widerspruch – anders als die schier allmächtige religiöse und philosophische Tradition der Zweiwertigkeit – als Wahrheit der menschlichen Existenz erkannt und bleibend in die Auseinandersetzung des Geistes mit seiner inneren dialektischen Beziehung, seinem essentiellen inneren Widerspruch, dessen Momente Grund und Gestaltung der Existenz ausmachen[51], eingebracht.
VI. Rabindranath Tagore über die Dialektik der Liebe
Rabindranath Tagore (1861-1941), der bengalische Dichter und Philosoph, hat die Gültigkeit der Existenz im Widerspruch mit der Liebe begründet: „In der Liebe versinken und verlieren sich alle Widersprüche des Lebens. Nur in der Liebe bilden Einheit und Zweiheit keinen Widerspruch. Liebe muß eins und zwei zur gleichen Zeit sein.“[52]
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[1] Dialektisch meint hier, daß etwas seine Identität nur durch sein Gegenteil erhält. Wer den Begriff X setzt, setzt damit notwendigerweise den Begriff Nicht-X. Ohne Nicht-X ist X nicht zu verstehen und umgekehrt. Diese Konstellation führt auf eine Einheit von etwas und seinem Anderen, d.h. diese durch X und Nicht-X konstituierte Einheit hält in sich widersprechende Bestimmungen. Die von den sich widersprechenden Bestimmungen erzeugte Einheit ist damit in ständiger Bewegung. Diese ein Drittes erzeugende Bewegung der Widersprüche macht das Leben der Einheit, des Dritten, aus. Dieser Prozeß wird dialektisch genannt (s.u.).
[1] Erweiterte Fassung eines Vortrags auf dem 2nd Symposium of the Institute for Existential Consciousness Research am 4. Juni 2018 in Bad Nauheim
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[1] Die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium, discrimen inter legem et evangelium, ist nach Luther die wesentliche, d.h. im Grunde einzige Aufgabe der Theologie. Die traditionelle Theologie ist damit obsolet geworden.
[2] D. Martin Luthers Werke, Weimar 1883-1929; sog. Weimarer Ausgabe (= WA), Tischreden 5, 210, Nr. 5518.
[3] Metaphysik 1011 b / Rowohlts Enzyklopädie (= RE) 555544, S. 121.
[4] Das Gesetz hat aber für Luther noch eine weitere Funktion: einen Hinweis auf die Notwendigkeit der Gnade zu geben, da seine Werke zu keiner haltbaren Begründung der Existenz führen. – Luther greift hier in antithetischer Absicht die traditionelle theologische Vorstellung des Eingießens der Gnade in den Getauften auf und gibt ihr eine radikal andere Bedeutung. Wenn man schon der Meinung ist, die Gnade werde eingegossen, so seien es aber nicht die Sakramente, als Ritual-Werke verstanden, die die infusio gratiae, d.h. die Eingießung der Gnade bewerkstelligten, sondern dies geschehe allein durch den Glauben hindurch. Diese polemische Bemerkung, daß es allein der Glaube sei, durch den die Gnade eingegossen werde, hat den Sinn, diese Vorstellung von der traditionellen Eingießung der Gnade in den Getauften vermittels des vom geweihten Priester in einem Ritualwerk, der Messe, erwirkten und erteilten Eucharistiesakraments ad absurdum zu führen. Denn der Glaube, der von jedem Ritualwerk unabhängig ist, kann als Nicht-Werk gar nichts eingießen. Die Gnade ist vor jedem Werk bereits eingegossen, so daß sich im Glauben die unverfügbare und unzerstörbare Gnade lediglich erschließt. Denn der Glaube kann nur an die Gnade extra nos, die außerhalb unserer Seele stets und immer gegeben ist, glauben. Er kann es nur glauben, weil der Mensch auch als Glaubender zugleich ein Sünder ist und bleibt.
[5] Was aus den Ungetauften, die keine heilsnotwendigen Sakramente empfingen, wurde, blieb unklar.
[6] Thesen für die Promotionsdisputation von Hieronymus Weller und Nikolaus Medler. Thema: Arbitramur hominem iustificari fidie absque operibus legis. De lege. In: WA 39 I: S. 49, Nr. 12: Christus etiam ab initio mundi occisus est pro peccatis totius mundi, antequam ulla ceremonia est.
[7] Diui Pauli apostoli ad Romanos epistola. In: WA 56, S. 202:’ Natura enim, vt supra dixi, prona ad malum, infirma ad bonum. – Die Natur ist nämlich, wie ich oben gesagt habe, zum Bösen bereit, unfähig zum Guten.
– Vorlesung über den Römerbrief. In: Martin Luther Studienausgabe, Berlin 1979, Band 1, S. 112 (Vgl. WA 56, S. 269): Sed salus tua extra te est … non ex me. Intrinsece autem sumus peccatores per naturam relatiuorum. – Aber dein Heil ist außerhalb von dir. … Innen aber sind wir Sünder per naturam relatiuorum.
– Vorlesung über den Römerbrief. In: Martin Luther Studienausgabe, Berlin 1979, Band 1, S. 123 (Vgl. WWA 56,S. 304 ): Ratio est, Quia Natura nostra vitio primi peccati tam profunda est in seipsam incurua. – Der Grund ist, weil unsere Natur durch den Fehler der ersten Sünde so abgrundtief in sich selbst verbohrt ist.
[8] Disputatio contra scholasticam theologiam. In: Martin Luther Studienausgabe, Berlin 1979, Band 1, S. 166: Non potest homo naturaliter velle deum esse deum. Immo vellet se esse deum, et deum non esse deum.
[9] Metaphysik 1074b / RE 555544, S. 325.
[10] Metaphysik 1074b / RE 555544, S. 325.
[11] In epistolam Pauli ad Galatas commentarius. In: WA 2, S. 516: Apostolus enim vult, hominem ex lege vivere apud hominem.
[12] In epistolam Pauli ad Galatas commentarius. In: WA 2, S. 516: sed iustum hominem ex fide apud deum, hoc est, quod iusticia, vita et salus hominis apud deum sit fides, non iusticia prior fide sed per fidem iusticia et vita.
[13] In epistolam Pauli ad Galatas commentarius. In: WA 2, S. 516: hoc est, quod iusticia, vita et salus hominis apud deum sit fides, non iusticia prior fide sed per fidem iusticia et vita.
[14] Contra Scholasticorum Sententiam. Disputatio Heidelbergae habita. Conclusio xxv. In: Martin Luther Studienausgabe, Berlin 1979, Band 1, S. 210: Quia iusticia Die non sequitur ex actibus frequenter iteratis, ut Aristotels docuit, sed infunditur per fidem- Iustus enim ex fide uiuit.
[15] Disputation De homine. In: WA 39/1, S. 175.
[16] Disputation De homine. In: WA 39/1; S. 175.
[17] Disputation De homine. In: WA 39/1; S. 175.
[18] Disputation De homine. In: WA 39/1; S. 176.
[19] Martin Luther: Vom Nutzen der Kindertaufe. In: Luther Deutsch. Bd. 9, 1983, S. 107.
[20] Predigten des Jahres 1546. Nr. 3 {17. Januar]. In: WA 51, S. 126.
[21] ^Hure.
[22] Predigten des Jahres 1546. Nr. 3 {17. Januar]. In: WA 51, S. 2126
[23] Auslegung des ersten und zweiten Kapitels Johanns. Das erste Kapitel. In: WA 46, S. 545.
[24] Predigten des Jahres 1546. Nr. 3 {17. Januar]. In: WA 51, S. 130
[25] Disputatio contra scholasticam theologiam: In: WA 1, S. 226: Tota fere Aristotelis EtHica . pessima et gratiae inimica. Vgl. Disputatio contra scholasticam theologiam. In: Martin Luther Studienausgabe, Berlin 1997, Band 1, S. 169: Tota fere Aristotelis ethica . pessima et gratiae inimica.
[26] Metaphysik 1063a / RE 555544, S. 287.
[27] Metaphysik 1063a; RE 555544, S. 286
[28] Vorlesung über den Römerbrief. In: Martin Luther Studienausgabe, Berlin 1997, Band 1, S. 114f.
[29] Vorlesung über den Römerbrief. In: Martin Luther Studienausgabe, Berlin 1979, Band 1, S. 113: Mirabilis et dulcissima misericordia Dei, Qui nos simul peccatores et non-peccatores habet. Simul manet peccatum et non manet.
[30] Vorlesung über den Römerbrief. In: Martin Luther Studienausgabe, Berlin 1979. Band 1, S. 113: Qui simul impios habet Iniustos et Iustos. Simul tollitur eorum peccatum et non tollitur.
[31] Metaphysik 1005b / RE 555544, S. 104.
[32] Disputation über die Rechtfertigung. In: WA 39 I, S. 91: Si ullam opus iustificat, neque fides iustificat, id est, in quantum est opus. Sed fides non est opus.
[33]. Disputatio de iustificatione, In: WA 39 I, S. 9: Solius Dei est, dare fidem contra naturam, contra rationem et credere. Est opus solius Dei, quod diligo Deum. Quamquam etiam est opus, quod ego credo, non debet tamen dici opus. Debemus relinquere unumquodque vocabulum in sua classe, ne res perturbaretur. Non debet fieri confusio in istis verbis. quia fides non est opus, neque opus est fides; sed fides est donum Dei, ideo non debet dici opus, ergo non debemus confundere vocabula de operibus et fide.
[34] Disputatio contra scholasticam theologiam. In: Martin Luther Studienausgabe, Berlin 1979, Band 1, S. 167: Diligered deum super omnia naturaliter, Est terminus fictus. … Actus amicitiae est natura, sed gratiae preuenientis. Non est in natura nisi actus concupiscientiae erga deum. … Omnis actus concupiscientiae erga deum est malus, et fornicatio spiritus.
[35] Vorlesung über den Römerbrief. In: Martin Luther Studienausgabe, Berlin 1979, Band 1, S. 123: Quia Natura nostra vitio primi peccati tam profunda est incurua, vt non solum optima dona Dei inflectat ipsisque fruatur … immo et ipso Deo vtatur ad illa consequenda, Verum etiam hoc ipsum ignoret. Quod tam inique, curue et prane omnia, etiam Deum, propter seipsam querat.
[36] Metaphysik 1007a / RE 555544, S. 109
[37] In Epistolam S. Pauli ad Galatas Commentarius. In: WA 40 I, S. 589: Atque haec est ratio, cur nostra Theologia certa est: Quia rapit nos a nobis et ponit nos extra nos, ut non nitamur viribus, conscientia, sensu, persona, operibus nostris, sed eo nitamur, quod est extra nos, Hoc est promissione et veritate Dei, quae fallere non potest.
[38] der Freiheit eines Christenmenschen. In: Martin Luther Studienausgabe, Berlin 1982, Band 2, S. 293:
[39][39] Von der Freiheit eines Christenmenschen. In: Martin Luther Studienausgabe, Berlin 1982, Band 2, S. 293: Die (sc. Person) aber wirt nit durch gepott oder werck / sondernn durch gottis wort < das ist durch seyne vorheyschung der gnadenn vnd den glaubenn / frum vnd selig / auff das bestehe seyn gottliche ehre / das er vns nit vunser werck / sondern vns durch seyn gnedigs wort vmsonst vnd lauter barmhertzickeit selig mache.
[40] Von der Freiheit eines Christenmenschen. In: Martin Luther Studienausgabe, Berlin 1982, Band 2, S. 299: Wolan meyn gott hatt mir vnwirdigen vordampten menschen / on alle vordienst / lauterlich umbsonst vnd auß eytel barmhertzickeit gebenn / durch vnd ynn Christo vollen reychtumb allwe frunkeit vnd selickeit ( das ich hynfurt / nichts mehr bedarff / denn glauben es sey also.“
[41] Wissenschaft der Logik. Die Lehre vom Wesen. Hamburg: Felix Meiner 19993, S.61
[42] Hegel unterscheidet streng zwischen Vernunft, dem spekulativen und dialektischen Denken des dialektischen Wesens der Existenz, und dem Verstand, der zweiwertig operiert, alles aus seinem konkreten Zusammenhang herausreißt und zu Abstraktionen verformt.
[43] Wissenschaft der Logik. Die Lehre vom Wesen. Hamburg: Felix Meiner 19993, S. 61
[44] Wissenschaft der Logik. Die Lehre vom Wesen. Hamburg: Felix Meiner 19993, S. 61
[45] Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften. Hamburg: Felix Meiner § 115, S. 125
[46] Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften § 115, Hamburg: Felix Meiner, S. 125
[47] Wissenschaft der Logik, Die Lehre vom Wesen, Hamburg: Felix Meiner 19993, S. 61
[48] Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften § 45, Hamburg: Felix Meiner 1959, S. 70
[49] Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften § 19, Hamburg: Felix Meiner 1959, S. 53
[50] Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften § 422 Zusatz, https://hegel.de/werke_frei/hw108131.htm
[51] Diese Auseinandersetzung ist der Kern von Religion und anders bezeichneten Existenzdeutungen. Die praktischen Schlußfolgerungen, die aus dieser Auseinandersetzung gezogen werden, sind die historischen, d.h. veränderlichen Religionskulturen, die in der Regel einfach nur Religion bzw. Religionen genannt werden. Doch sind nur die variablen Formen der invariablen Religion – Religion in diesem Sinne ist das Resultat der Unbestimmbarkeit der Natur des menschlichen Geistes. Der Geist muß sich, um seine Existenz gestalten, d.h. um leben zu können, je und je für entsprechende Grundprinzipien, die in einer Religionskultur sich artikulieren und die tatsächliche Kultur bestimmen, entscheiden, wohl wissend oder spürend, daß eine solche Entscheidung auf Grund der letztendlichen Nichtdefinierbarkeit der Existenz keine absolute existentielle Sicherheit bietet, vielmehr stets von dem sich entschieden habenden Geist wieder aufgehoben werden kann, und wie die Geschichte zeigt aufgehoben wurde und künftig auch aufgehoben werden wird.
[52] „In love all the contradictions of existence merge themselves and are lost. Only in love are unity and duality not at variance. Love must be one and two at the same time.“ In: SĀDHANĀ. The Reaisationn of Life.A Book on Spirituality by Rabindranath Tagore. New York: The McMillan Company 1915
http://www.spiritualbee.com/media/sadhana-by-tagore.pdf, p. 66.
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