Nr. 17 (1998)

Beten und Verstehen
Eine religionswissenschaftliche Annäherung an Friedrich Heiler (1892 -1967)

Nr. 17 (1998)

von Karl Dienst

Eine Hinführung zur Themaformulierung

‚Friedrich Heiler als Religionswissenschaftler‘ – so lautete die ursprünglich vorgesehene Formulierung des Themas. Im Prozeß des Nachdenkens gab es gute Gründe für eine Modifikation. Zunächst ist die begriffliche Näherbestimmung von ‚Religionswissenschaft‘ weithin zu einem positionellen Unternehmen geworden. Der Bogen spannt sich von einem aufklärerisch-religionskritischen Impetus bis hin zu einer theologischen Indienstnahme der Religionswissenschaft. Welcher Position ist Heiler hier zuzuordnen?

Die Frage, welches Verständnis von Religionswissenschaft bei Friedrich Heiler anzutreffen ist, hängt offenbar auch von persönlichen Einschätzungen seines Gesamtwerkes und seiner Biographie ab. Während Studenten in Marburg nach Selbstzeugnissen „Heiler nur als Religionswissenschaftler, nicht als Kirchenmann“ kannten, konnte Wolfgang Philipp 1967 in einem „ökumenischen Portraits“[1] Heilers gerade das Gottesdienstlich-Liturgische in den Mittelpunkt stellen. Beide Aspekte haben ihren Anhalt auch an Heilers Biographie: 1929 wurde er Vorsitzender der Hochkirchlichen Bewegung; in dem 1948 gegründeten ‚Bund für Freies Christentum‘ war er Vorstandsmitglied. In seinem Büchlein Schläft ein Lied in allen Dingen schreibt Rudolf Irmler: „Heilers Ziel war die Erneuerung des Gottesdienstes unter Wort und Sakrament“[2]. Udo Tworuschka, positionell eher dem ‚Freien Christentum‘ verpflichtet, sieht in Heiler „in erster Linie den Theologen“; aber er ist für ihn „ein Theologe ganz besonderen Zuschnitts“: „ein Grenzgänger zwischen Wissenschaften, Konfessionen, ja Religionen. Man kann den Religionswissenschaftler nicht ohne den Theologen, Liturgen, Musiker, Menschen- und Tierfreund verstehen. Heilers Theologie war nicht konfessionalistisch-verengt, binnenorientiert, sondern auf Weite und Offenheit hin ausgelegt. Darum griff sie wie von selbst zur Religionsgeschichte hinüber“[3]. Meine erste Begegnung mit Friedrich Heiler war die Lektüre von Predigten, die er 1949 unter dem Titel MYSTERIUM CARITATIS herausgab. Diese Predigten sind in den Jahren 1943 – 1948 zum größten Teil in Kirchen und Kapellen in Marburg gehalten worden[4].

Die jetzt gewählte Themaformulierung versucht, die angedeutete Komplexität der Thematik: ‚Friedrich Heiler als Religionswissenschaftler‘ aufzunehmen, aber vorschnellen Festlegungen zu entgehen. Das mein Nachdenken leitende Verständnis von Religionswissenschaft will im aufklärerischen Interesse Unterschiede zu einer Theologie der Religionen nicht verleugnen. Gleichwohl fühle ich mich grundlegenden Einsichten meines Lehrers Walter Holsten[5] verbunden, der schrieb: „Religionswissenschaft weiß sich zwar in einem Gegensatz zur christlichen Theologie, ist aber immer wieder selbst Theologie geworden. Das ist nicht zufällig. Denn Religionswissenschaft hat es mit dem homo religiosus zu tun, mit dem Menschen, der sich in der Religion über sich selbst ausspricht. Umgekehrt hängt das Verständnis der Religion vom Verständnis des Menschen, vom Selbstverständnis ab. Und dieses wiederum hängt vom Glauben ab. Darum gilt von der Religionswissenschaft im besonderen: „Welche Methoden wir wählen, das hängt letztlich davon ab, welche Weltanschauung wir als für uns wahr und damit verpflichtend anerkennen“ (G. Rosenkanz). Es ist also in jedem, nicht nur im Falle der Theologie so, daß die Erforschung der Religionen bzw. des religiösen Menschen durch die eigene, eingestandene oder uneingestandene, Religion des Forschers beeinflußt oder auch beeinträchtigt ist. Die Beeinträchtigung ist dann am größten, wenn die Illusion einer absoluten Voraussetzungslosigkeit nicht durch die Erkenntnis und das Eingeständnis der faktischen Voraussetzung zerstört wird“.

In systematischer Hinsicht weiß ich mich hier auch Einsichten Gerhard Ebelings verpflichtet[6]. Für ihn ist das Phänomen des Gebets „Hermeneutischer Schlüssel der Gotteslehre“: „Die Lehre von Gott ist in Korrelation zur Lehre vom Gebet zu entwerfen. Dies bedeutet eine wesentliche Abweichung vom traditionellen dogmatischen Vorgehen. Zugleich steht es jedoch im Gegensatz zu der gegenwärtigen Verunsicherung in bezug auf die Lehre von Gott. Es verleiht der Gotteslehre eine Konzentration und Begründung, die dem biblischen Reden von Gott näher stehen als die Verfahrensweise der klassischen dogmatischen Gotteslehre“. Die Frage nach dem Ort des Gebets in der Dogmatik muß also um die Frage erweitert werden: Welchen Ort hat die Dogmatik im Gebet? Dadurch, daß Dogmatik ihre Aussagen im alles umgreifenden Horizont des Gebets macht, wird sie zur christlichen Dogmatik. „Verstehen“ ist hier fundamental auf das Gebet bezogen, eine, wie ich meine, Heiler nicht fremde Einsicht.

‚Beten ist ein seltsam Werk‘ – Religionswissenschaftliches vom Gebet –

„Beten ist ein seltsam Werk“: Mit diesem Zitat beginnt Friedrich Heiler sein bekanntestes Werk Das Gebet [7], mit dem er 1917 in München zum Dr. phil. promovierte, und das bis heute ein Standardwerk der Religionswissenschaft ist, vergleichbar Rudolf Ottos Das Heilige. Enthusiastisch schrieb Nathan Söderblom am 14. Mai 1918 an Heiler: „Es gibt im Gebiet unserer Studien wenige solcher Arbeiten wie die Ihrige, welche mit einem so umfassenden Gegenstand ernste Methode und eine feste religionsgeschichtliche und religionspsychologische Orientierung verbinden und einen unbefangenen kritischen Blick mit warmem Sinn für das Geheimnis der Religion vereinigen. Was für eine Freude Sie mir durch Ihr opus magnum bereitet haben, Erquickung, Belehrung und Anregung und Dankbarkeit für die liebenswürdige Weise, in welcher Sie meine Arbeiten verwertet haben, ja, das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich beglückwünsche unsere gemeinsame Wissenschaft und die Zukunft der Religionsgeschichte an den deutschen Universitäten zu der ebenso überraschenden als erfreulichen Erscheinung eines bei jungen Jahren schon reifen und durch eine gewaltige wissenschaftliche Leistung vollendeten Forschers … Im Heiligtum der Religion weilt Ihr Buch. Gottes Segen wünsche ich, darum bete ich für Sie und Ihren weiteren Gottesdienst, der darin besteht, die Religion mit unermüdlichem Fleiß, kritischer Wahrheitsliebe und kongenialem Sinn zu erforschen“[8].

Dem Vorwort des genannten Werkes Das Gebet hat Heiler drei Zitate vorangestellt. Sie sind für das Verstehen des Buches m. E. grundlegend. Das erste stammt von Augustin (De temp. serm. 226): „Oratio justi clavis est coeli. Ascendit et descendit miseratio Dei“. Es folgt Mechthild von Magdeburg (Offb. V 13): „Dies Gebet hat große Kraft, das ein Mensch leistet mit aller seiner Macht. Es machet ein sauer Herz süße, ein traurig Herze froh, ein arm Herze reich, ein dumm Herze weise, ein blöd Herze kühne, ein krank Herze stark, ein blind Herze sehend, eine kalte Seele brennend. Es ziehet hernieder den großen Gott in ein klein Herze; es treibet die hungrige Seele hinauf zu dem vollen Gotte“. Endlich Martin Luther: „Was das Gebet für Kraft, Eigenschaft und Tugend an sich habe, werden wir, hab ich Sorge, nicht genugsam können herausstreichen, denn so schlicht und einfältig es klinget, so tief, reich und weit ist es, daß niemand es ergründen kann“(Ausl. d. 17. Kap. Joh., Erl. 50, 160).

Im Blick auf Aufgabe und Methode der Religionswissenschaft schreibt Heiler: „Die Religionswissenschaft sucht zu ergründen, was Religion ist, wie sie im Seelenleben des Menschen entsteht und im Gemeinschaftsleben der Menschen sich fortbildet, was sie für unser Geistes- und Kulturleben bedeutet“ (Das Gebet, S. 17). Ausgangs- und Mittelpunkt der Religionswissenschaft ist für Heiler „die reine, naive Religion“: „Die Religion muß vor allem an ihren Quellen und Höhepunkten studiert werden, dort, wo sie spontan und frei mit produktiver Kraft aus starken seelischen Erlebnissen hervorbricht, wo sie noch nicht erstarrt ist in stabilen, konventionellen Kultformen und noch nicht überwuchert durch das ausdeutende mythologische Denken oder die klärende philosophisch-theologische Spekulation. Naive Religion ist mit urwüchsiger Lebendigkeit wirksam im Kult der heutigen primitiven Völker … Naive Religion lebt ebenso in der Volksfrömmigkeit aller Jahrhunderte und aller Kulturen“ (Das Gebet, S. 17). Allerdings reichen die primitiven Äußerungen des religiösen Erlebens allein nicht aus, um ein vollständiges und zutreffendes Bild von „naiver Religion“ zu gewinnen (Das Gebet, S. 18). Wichtig ist auch der „Vergleich mit dem Frömmigkeitsleben der großen religiösen Persönlichkeiten“, worunter Heiler „die Mystiker und Seher, die Propheten, Prediger und Missionare, die Reformatoren und Stifter“ sieht (Das Gebet, S.19); und weiter: „Auf naive, unreflektierte Religion stoßen wir auch im Leben solcher Persönlichkeiten, deren produktives Schaffen einer anderen Sphäre von Werten angehört als der religiösen. Gerade die großen Dichter und Künstler, aber auch geniale Staatsmänner, Entdecker (Columbus!), Naturforscher und Strategen (u. a. Hindenburg) offenbaren eine unmittelbare Herzensfrömmigkeit, die ganz überraschende Parallelen zur Frömmigkeit der religiösen Genien bietet.“

Daneben hält Heiler die „Untersuchung der sekundären Phänomene“ der Religion unbedingt für erforderlich: „Hinter dem urwüchsigen, individuellen Erleen dürfen jene religiösen Gebilde nicht vergessen werden, die teils auf der Gemeinschaft religiöser Individuen (der Mythos, der Ritus, die Liturgie, das Gesetz), teils auf der Verbindung der Religion mit dem philosophischen Denken (die rationale Reformreligion) oder auf beiden zugleich (das kirchliche Dogma) beruhen. Auch die Erstarrungs- und Zersetzungs-Phänomene müssen Gegenstand religionswissenschaftlicher Untersuchung werden“ (Das Gebet, S.21).

Bei religionswissenschaftlichen Untersuchungen spielen nach Heiler auch empirische, geschichtliche und psychologische Untersuchungen eine wichtige Rolle. „Die grundlegende Aufgabe der empirischen Untersuchung der Religion ist die Typenlehre, d. h. die Klassifikation, Deskription und Analyse der verschiedenen Formen der Religion bzw. einer Erscheinung der Religion“ (Das Gebet, S.23). Allerdings betont Heiler im Vorwort zur 3. Auflage, 1920: „Die Hauptthese des Werkes (= Das Gebet), die Unterscheidung des mystischen und prophetisch-biblischen Frömmigkeitstypus, ist mehrfach angefochten worden. Daß diese Typisierung die Fülle und Mannigfaltigkeit der höheren Religionsformen nicht restlos umfassen und gliedern kann, versteht sich von selbst. ‚Die Wirklichkeit ist stets reicher als unsere Distinktionen … Aber die Religionswissenschaft braucht feste Linien, und zwar solche, die durch das Herz der Religion laufen‘ (Nathan Söderblom, Ur Religionens historia 1915, S. 70).“ Auf weitere Aspekte muß hier verzichtet werden, beschränkt sich doch Heilers Das Gebet „auf die Klassifikation, Deskription und Analyse der einzelnen Typen des Gebets“; sie schließt mit der „Phänomenologie, d. h. der Wesensbestimmung des Gebets“ ab (Das Gebet, S. 26).

Gehen wir kurz auf Heilers Typen des Gebets ein: „Die Urform des Betens ist das naive Beten des primitiven Menschen“ (Das Gebet, S. 486), das im „rituellen Gebet“ zur „heiligen, unantastbaren Formel, zum priesterlichen Amtsgeschäft“ verkümmert. Vom feierlichen „Kulthymnus“ löst sich die „literarische Hymnenpoesie“ ab. „Gegen das primitive und kultische Gebet erhebt sich die scharfe Kritik des philosophischen Denkens; an die Stelle des naiven Betens rückt die Philosophie ein abstraktes, rational-ethisches Gebetsideal“. Weiter: „Die reinste und reichste Form allen Betens ist das Gebetsleben der großen religiösen Genien; es vereint idealen Schwung mit urwüchsiger Lebendigkeit, ethische Reinheit mit elementarer religiöser Leidenschaft, tiefe Innigkeit mit überwältigender Kraft“. „In zwei Haupttypen sondert sich die Gebetsfrömmigkeit der schöpferischen religiösen Geister: in den mystischen und prophetischen Typ. Das mystische Beten ist die Hinwendung der von der Welt und der eigenen Leidenschaft losgelösten Seele zu Gott, dem höchsten und einzigen Wert; von der sinnenden, von stimmungsreichen Phantasiebildern sich nährenden Meditation steigt der betende Mystiker empor zur wonnevollen Kontemplation des höchsten Gutes, bis sich zuletzt die entzückte Gottesschau in der unendlichen Seligkeit der Ekstase verliert, in welcher der endliche Mensch untertaucht in die Fülle des unermeßlichen Gottes … Das prophetische Beten ist im Gegensatz zum mystischen ein naives ‚Ausschütten des Herzens‘, schlichte Aussprache der drängenden Not und des sehnsüchtigen Verlangens, Bitte um Erhörung, um Hilfe, Gnade und Heil für sich und die Brüder; das primitive Beten lebt hier auf, religiös verinnerlicht und sittlich verklärt, aber ungeschwächt in seinem konkreten Realismus“ (Das Gebet, S. 486 f.). Weiter nennt Heiler z. B. das „gottesdienstliche Gemeindegebet“ und das „gesetzlich und verdienstliche Individualgebet“.

Was die Bestimmung des Wesens des Gebets ausmacht, so müssen wir nach Heiler „jene Typen des Gebets ins Auge fassen, in denen uns dieses als naive, spontane Seelenäußerung entgegentritt“ (Das Gebet, S. 488). Dies setzt allerdings eine Trennung von den „sekundären Gebetstypen“ voraus, die „nicht mehr ursprüngliches, persönliches Erlebnis, sondern Nachahmung, Surrogat oder Erstarrung eines ursprünglich Lebendigen“ sind: „Das individuelle Beten der Durchschnittsfrommen ist eine mehr oder weniger treue Übernahme fremden originären Erlebens; es bleibt an Lebendigkeit, Kraft und Tiefe hinter dem idealen Muster zurück. Das philosophische Gebetsideal ist eine kühle Abstraktion, konstruiert nach den Normen der Metaphysik und Ethik; das lebendige Gebet wird einer Fremdgesetzlichkeit, den Normen der Philosophie unterworfen, und nach dieser Fremdgesetzlichkeit umgebildet und korrigiert; das Produkt dieser Korrektion ist kein wirkliches Gebet mehr, sondern der Schatten eines solchen, ein künstliches, totes Gebilde. Die rituelle Gebetsformel, der Kulthymnus, das liturgische Gemeindegebet als sakrale Institution, das gesetzliche und verdienstliche Gebet – all diese Gebetstypen sind Erstarrungsphänomene, in denen das quellende persönliche Leben zu objektiven, überpersönlichen Formen und Normen geworden ist … Die Wesenszüge des Gebets werden nie an diesen sekundären Zersetzungs- oder Erstarrungsformen des Gebets sichtbar, sondern nur an dem reinen, naiven Beten, wie es in schlichten, urwüchsigen Menschenkindern und in überragenden schöpferischen Genien lebt“ (Das Gebet, S. 488 f.).

Für Heiler ist das Gebet „der Ausdruck eines elementaren Dranges nach höherem, reicherem, gesteigertem Leben … Das Streben nach Befestigung, Stärkung und Steigerung des eigenen Lebens ist das Motiv alles Betens“ (Das Gebet, S. 489). Allerdings will Heiler nicht bei dem psychologischen Motiv des Betens stehen bleiben sondern die „Glaubensmeinungen des naiven Beters“ klären „seine innere Haltung und geistige Zielung erfassen, die ideellen Voraussetzungen begreifen, die dem Gebet als seelischem Erlebnis zugrunde liegen“. Das Ergebnis: „Es sind näherhin drei Momente, welche die innere Struktur des Gebetserlebnisses bilden: der Glaube an den lebendigen, persönlichen Gott, der Glaube an seine reale, unmittelbare Präsenz und der dramatische Verkehr, in den der Mensch mit dem als gegenwärtig erlebten Gott tritt“ (Das Gebet, S. 489). Heilers Zusammenfassung lautet: „Das Gebet ist ein lebendiger Verkehr des Frommen mit dem persönlich gedachten und als gegenwärtig erlebten Gott, ein Verkehr, der die Formen der menschlichen Gesellschaftsbeziehung widerspiegelt“ (Das Gebet, S. 491). „Das Gebet ist kein bloßes Erhabenheitsgefühl, keine bloße weihevolle Stimmung, kein bloßes Niedersinken vor einem höchsten Wert; das Gebet ist vielmehr ein wirklicher Umgang des Menschen mit Gott, ein lebendiger Verkehr des endlichen Geistes mit dem unendlichen … Beten heißt mit Gott reden und verkehren“ (Das Gebet, S. 494).

Daß hier ein christliches, auch reformatorisches Verständms von Gebet normativ ist, liest auf der Hand. Friedrich Heilers Münchner Antrittsvorlesung von 1918 hatte „Luthers religionsgeschichtliche Bedeutung“ zum Thema. Allerdings lassen sich Einflüsse der Mystik auf Heilers Gebetsverständnis in zunehmendem Maße feststellen. In der 5. Auflage von Das Gebet schreibt Heiler: „Unter dem Einfluß von Friedrich von Hügel, William Ralph Inge und Mrs. Evelyn Underhill, den besten, unbefangensten und kongenialsten Erforschern der Mystik in Gegenwart und Vergangenheit, hat der Verfasser seine frühere Auffassung und Beurteilung der Mystik in verschiedenen Punkten korrigiert und sich von der Ritschlschen Theorie der Mystik, die bisweilen in diesem Buch wie in anderen kleineren Schriften des Verfassers durchschimmert, gänzlich freigemacht … Die zweite wichtigste Ergänzung liegt in einer noch entschiedeeren Betonung des allem Gottesumgang eigenen Realismus und der energischen Abweisung jeder Art von ‚Psychologismus‘, der die transzendente Realität menschlichen ‚Erlebnis‘ verflüchtigt und auflöst. Das Göttliche, mit dem der betende Fromme umgeht, ist nicht eine Schöpfung menschlicher ‚Erlebnisse‘, seien es nun Stimmungen, Wünsche oder ‚Werturteile‘, sondern reine, volle, letzte, höchste Wirklichkeit … Diese jedem Psychologismus feindliche, streng realistische Auffassung des Religiösen … ist freilich grundverschieden von jenem krankhaft übersteigerten ‚Objektivismus‘ eines Karl Barth, Friedrich Gogarten und Emil Brunner, welcher – im berechtigten Kampf gegen den modernen ästhetischen Erlebniskult – die ‚Seele‘ aus dem lebendigen Gottesglauben überhaupt verbannt und jede religiöse und christliche ‚Innerlichkeit‘ letzten Endes zerstört“. Bekanntlich hatte Albrecht Ritschl alle Mystik als „katholisch“ verdammt. Friedrich Gogarten prangerte Heilers „schwülen Psychologismus“ noch bis in die fünfziger Jahre an [9]. Überhaupt betrachtete Friedrich Heiler die sog. Dialektische Theologie in ihrem theologischen Kernanliegen als „Doketismus“.

‚Das Geheimnis des Gebets‘ – Homiletisches über das Gebet –

Am 14. 05. 1945 predigte Heiler in der Franziskuskapelle in Marburg aufgrund von Joh. 16, 23 b – 33 über das „Geheimnis des Gebets“[10]. Er setzt religionswissenschaftlich mit dem Hinweis auf die Bittprozessionen in der römischen Kirche ein. Auch die „Anti-Predigt“ stammt aus der Religionswissenschaft: „Das Gebet wird von vielen aufgeklärten Menschen bespöttelt. Der Mensch, so lautet ein Einwand, bete aus Schwäche; der starke Mensch brauche kein Gebet, er vertraue vielmehr auf seine eigene Kraft und trotze dem Schicksal. Das Beten sei unnütz; denn viele Gebete fänden keine Erhörung, sondern verhallten in der unendlichen Leere; und soweit Gebete scheinbar Erhörung fänden, komme diese Erhörung nicht von einem Gott im Himmel, sondern aus der Selbstsuggestion; denn nicht zu einem jenseitigen Wesen betet der Mensch, sondern im Grunde nur zu sich selber, zu seinem Doppel-Ich, das als über dem Menschen stehende Gottheit fingiert werde“. Dagegen argumentiert Heiler wieder religionswissenschaftlich: „Alle diese Einwände sind nicht neu. Schon die antiken Philosophen haben am Gebet Kritik geübt. Aber so oft auch diese Einwände von scharfsinnigen Denkern ausgesprochen worden sein mögen, das Gebet ist dennoch nie verstummt in der Geschichte der Menschheit. Und es kann nie verstummen, denn es ist ein Urlaut der menschlichen Seele genau so wie der Ruf Vater und Mutter. Das Gebet ist der spontane Ausdruck des Sich-abhängig-Wissens von der unendlichen Macht, in deren Händen wir sind, und zugleich der Sehnsucht nach der letzten und tiefsten Geborgenheit in dieser Macht, die Güte und Barmherzigkeit ist … So verschieden auch die Menschen sein mögen, ob sie der alten oder der neuen Zeit angehören, einer hellen oder dunklen Rasse, einer hohen oder niederen Kultur, in einem sind sie einander gleich: sie beten. Die ethnologische Erforschung der kulturärmsten Stämme hat uns mit einer überwältigenden Deutlichkeit gelehrt, daß sie zu göttlichen Wesen beten, zu den Naturgeistern, den Ahnen, und zum Wesen, dem Himmelsgott. Ebenso hat die philologische Erforschung der ältesten literarischen Dokumente der Menschheit klar gezeigt, daß alle antiken Völker beteten, zu den Göttern, ja zum einen Gott; gerade das Gebet hat viel dazu beigetragen, daß die Vielheit der göttlichen Wesen dem einen Gott Himmels und der Erde Platz gemacht hat. Und die Erforschung des Lebens der größten Frommen und Heiligen hat uns gelehrt, daß ihre tiefste Kraft das, was sie gottgewiß, gotterfüllt, gottfreudig gemacht hat, das Gebet war. Ja, selbst bei großen Künstlern, Dichtern und Forschern nimmt das Schaffen und Forschen, das Denken und Gestalten immer wieder Ausdruck im Gebet an …“

Sodann schlägt Heiler die Brücke zum Gebet im Namen Jesu: „Es gibt unausgesprochene und unbewußte Gebete von Millionen von Menschen, die allein der allwissende Gott kennt. Aber wir wollen nicht im unbewußten Gebet steckenbleiben; auch wollen wir uns nicht darauf beschränken, in Augenblicken höchster Not zu beten, noch soll unser Beten ein bloßes Bitten und Betteln, ein Vortragen unserer dringenden Wünsche sein. Wir wollen ‚im Namen Jesu‘ beten, unter Berufung auf Ihn, vor allem aber in seinem Geiste …“

In dieser Predigt greift Heiler unmittelbar Ergebnisse seiner religionswissenschaftlichen Forschung auf. Religionswissenschaftliche Sätze können für ihn offenbar gleichzeitig Anrede, Verkündigung sein. Religionswissenschaft ist für Heiler also nicht nur eine wissenschaftlich reflektierende, distanzierende und in einen theoretischen Erklärungszusammenhang stellende Bemühung um das Religiöse, nicht nur eine theoretische Ein stellung oder funktionale Betrachtungsweise, auch nicht einfach die Zuwendung zu einem allgemeinen religiösen und humanen Phänomen. Sie kann auch in Theologie, ja auch in Verkündigung übergehen! Hier sei noch einmal an Heilers Vorwort zur 5. Auflage seines Werks Das Gebet erinnert: Das Religionswissenschaftliche kann helfen, den Nachweis zu führen, daß das Göttliche, mit dem der betende Fromme umgeht, „nicht eine Schöpfung menschlicher ‚Erlebnisse‘ ist …, sondern reine, volle, letzte, höchste Wirklichkeit …“.

Die Verschränkung theologischer und religionswissenschaftlicher Aspekte im Blick auf das Gebet bei Heiler kann in ihrer Bedeutung noch besser erkannt werden, wenn wir es einmal in gebotener Kürze mit heutigen aufklärerisch-religionswissenschaftlichen Verständnissen des Gebets konfrontieren. Da erscheint z. B. das Gebet als ein resignativ-affirmatives Fertigwerden mit der konfliktreichen Wirklichkeit im Rahmen einer „autoritären“ oder „kalten“ Religion, die Gott im Muster einer Allmachts-Ohnmachts-Gegenüberstellung sieht; sodann Beten als persönliche, unmittelbare, wunderhafte Beziehung zu einem Vater-Gott, der als Sender, Töter und Auferwecker seines sehnenden Sohnes die Schuld aufgrund dieses Sühnopfers demjenigen erläßt, der eben an diese „Tatsachen“ glaubt; Beten als klärendes Gespräch mit dem Über-Vater im Sinne des Gesprächs zwischen dem (großbürgerlichen) Lehrer und dem wohlerzogenen Schüler; Beten als narratives Selbstgespräch, als Durchdenken eigener Grunderfahrungen als Ablösungsversuch vom allmächtigen Vater; Beten als Stabilisierung unseres westlichen way of life und der entsprechenden privaten Frömmigkeit durch den Vater-Gott, der als Garant des Status Quo im Hintergrund bleibt (Beten als Integrationsleistung); Beten als Sprechen mit der Tiefe der Wirklichkeit mit dem Ziel der Selbstbefreiung im kosmisch-holistisch-evolutiven Konzert, als Einweisung in die Neue Wassermann-Welt des holistisch-harmonischen Kosmos-Erlebens; Beten als befreiungsorientiertes Informieren, Reflektieren/Meditieren und Engagieren in Erinnerung an Jesu „Dasein mit anderen“. Beten weitet sich aus von einer liturgischen Ausdrucksform in unsere Leidens- und Befreiungserfahrungen hinein, in Träume und Erinnerung, in unseren Körper und unsere Beziehungen hinein, in Arbeiten, Feiern, Trauern und in unseren Umgang mit der Schöpfung hinein. Im Beten verändern wir uns und halten die Zukunft offen, veränderbarer[11].

Der Unterschied zwischen Heilers Verständnis von Religionswissenschaft und einem aufklärerischen Verständnis wird auch deutlich im Blick auf das Verständnis von Gottesdienst. In seinem Versuch einer „Theorie des Gottesdienstes“ mit dem Ziel, „das Dasein, also Ziele, Inhalte, Formen und Funktionen des Gottesdienstes, wie er geschichtlich existiert, wissenschaftlich zu reflektieren und in einen theoretischen Erklärungszusammenhang zu stellen“, was sich ausdrücklich von einer „Theologie des Gottesdienstes“ unterscheiden soll, die dogmatisch-normativ das „Wesen“ des Gottesdienstes entfaltet, vertritt Peter Cornehl [12] die These: „Im Gottesdienst vollzieht sich das darstellende Handeln der Kirche als öffentliche symbolische Kommunikation der christlichen Erfahrung im Medium biblischer und kirchlicher Überlieferung. Als Feier der Befreiung und Versöhnung zielt der Gottesdienst auf Orientierung, Ausdruck, Vergewisserung und Erneuerung des Glaubens. Ein solcher Ansatz steht in der Kontinuität neuzeitlicher Theoriebildung. Denn erst die Aufklärungstheologie hat mit der bis dahin selbstverständlichen Traditionsleitung gebrochen und Gottesdienst funktional begriffen als System von verbalen und präverbalen Zeichen und als Gefüge bedeutungsvoller symbolischer Handlungen“. Demgegenüber akzentuiert Friedrich Heiler seinen religionswissenchaftlichen Überblick über die verschiedenen Formen des christlichen Gottesdienstes so: „Ich danke Gott dafür, daß ich den Reichtum seiner Gnadengaben in dieser Vielgestaltigkeit schauen durfte. Und ich freue mich darüber, daß es mir selbst innerlich möglich ist, am Gottesdienst der verschiedenen christlichen Bekenntnisse teilzunehmen. Doch ich schaute nicht nur die Mannigfaltigkeit, sondern auch die übergreifende Einheit … Sie liegt darin, daß alle christlichen Gottesdienstformen getragen und beherrscht sind von dem Glauben an den lebendigen Christus. Im Wort und Sakrament, im Gebet und Lied der Gemeinde erweist der lebendige Christus seine Gegenwart … Und weil Christus der Gegenwärtige ist, darum ist die Kirche nicht ein menschlicher Verein, sondern … Christi Braut, Christi Leib, Christi Fülle … Der christliche Gottesdienst ist ein Stück Ewigkeitsfreude. Nicht umsonst schaut die Johannesoffenbarung die Seligkeit der Vollendeten als einen Gottesdienst der Anbetung und des Dankes, als eine Eucharistia, als ein hochzeitliches Mahl. Darum sind die tiefsten Klänge des christlichen Gottesdienstes die Gebete und Lieder voller Ewigkeitssehnsucht, die ausschaut nach dem Gottesdienst der Vollendung“[13 ].

 

Religionswissenschaftliche Reflexionen des späten Heiler

 

Das Nathan Söderblom und Rudolf Otto gewidmete Spätwerk Friedrich Heilers: „Die Religionen der Menschheit“ (Stuttgart 1959) beginnt mit einer wichtigen inhaltlich-methodischen Reflexion: „Die Menschheit stellt in ihrem Geistesleben eine große Einheit dar. Dies gilt gerade für jenes Gebiet, welches an die tiefsten Wurzeln des menschlichen Seins rührt, die Religion. Die moderne Religionswissenschaft hat dieses Gebiet mit denselben Methoden zu durchleuchten versucht wie andere Geisteswissenschaften das der Sittlichkeit, des Rechtes, der Kunst und Philosophie. Die Schwierigkeit dieses Bemühens liegt darin, daß infolge der Differenzierung und Verfeinerung der wissenschaftlichen Methoden ein einzelner Religionsforscher kaum mehr imstande ist, das gesamte Gebiet der Religionsgeschichte, geschweige denn der Religionswissenschaft überhaupt, zu überblicken. Auch bei ausgedehnten sprachlichen Kenntnissen vermag er nur bei einem Teil der von ihm studierten Religionen den unmittelbaren Zugang zu den Originaltexten zu gewinnen. Aus diesem Grund ist es mehr und mehr üblich geworden, die Darstellung der gesamten Religionsgeschichte in die einzelnen kulturwissenschaftlichen und philologischen Gebiete aufzuteilen und von Kennern eines solche engeren Fachgebietes behandeln zu lassen. Auf diese Weise entsteht eine Reihe von zumeist trefflichen Einzeldarstellungen, die freilich die jeweilige Religion mehr unter literar- und kulturgeschichtlichem als religionswissenschaftlichem Gesichtspunkt betrachten. Vor allem geht dabei die Einheit der Auffassung und Darstellung verloren, und es heißt hier: ‚Die Teile habt ihr in eurer Hand, fehlt leider nur das geistige Band‘. Ja, bisweilen sind es nicht einmal die Teile, weil der Sinn für die Besonderheit des Religiösen fehlt, ohne welchen es keine tieferdringende Religionswissenschaft gibt“.

Heiler schlägt einen anderen Weg ein: Die einzelnen Abschnitte sind von Forschern verfaßt, deren eigentliches Fachgebiet die Religionswissenschaft ist und die Heilers engere Mitarbeiter sind.

Als einen wichtigen Grundsatz nennt Heiler: „Durch die Uberwindung der räumlichen Schranken der Menschheit sind auch ihre Religionen einander viel näher gerückt … Die Auseinandersetzung der einzelnen Religionen ist unausweichlich. Sie darf jedoch nur im Geiste strenger Sachlichkeit und unbeirrbarer historischer Kritik geschehen, zugleich aber im steten Bewußtsein der Einheit der ganzen Menschheit, also im Geist der Aufgeschlossenheit und brüderlichen Liebe.

Kurt Goldammer hat 1980 eine Neuauflage dieses Buches herausgebracht. Hier hat Goldammer die Heilerschen Beiträge zur Phänomenologie und zu den „Versuchen einer Synthese der Religionen“ kaum verändert, weil für ihn hier „nicht nur der Religionshistoriker, sondern auch der Theologe spricht, der die ihn beschäftigenden Ergebnisse der Theologie und Religionsphilosophie zu einer ihm eigenen Gesamtschau verarbeitet hat. Hier tritt eine geschichtlich gegründete Wesensschau und Theologie des Christentums und der Religionen zutage, die nicht immer die Zustimmung einzelner Fachvertreter finden wird, die indes ein ureigenes Produkt Heilerscher Sicht der Religion, ihrer Gesamtgeschichte und der Geschichte des Christentums ist, die ganz von seinem Personalstil geprägt ist und an der deshalb nichts zu ändern war“ (S. 15).

Es läßt sich eine Kontinuität der Grundthese Heilers feststellen: „Die Religion erweist sich in allen drei Aspekten (Erscheinungs-, Vorstellungs- und Erlebniswelt) als innere Einheit. Nicht nur die verschiedenen, auf einer und derselben Höhenlage befindlichen Religionen, sondern auch die auf verschiedenen Stufen stehenden sind von einem einheitlichen Band umschlungen: die niederste und die höchste, die unvollkommenste und die vollkommenste, die sinnlichste und die geistigste Religion sind letztlich eins“ (. 18). Das klingt allerdings ein wenig nach Romantik.

Von hier aus kann Heiler das „Wesen der Religion“ so umschreiben: „Obgleich die religiösen Erlebnisse stets subjektiv gefärbt und beschränkt erscheinen …, sind diese Erlebnisse für den Erlebenden selbst keine Illusionen, die religiösen Vorstellungen keine Fiktionen, sie zielen vielmehr auf die letzte und höchste Realität hin, auf die ‚Wirklichkeit der Wirklichkeit‘ der Upanisaden, auf das ‚wahrhaft Seiende‘ Platons, auf das ‚Ich bin, der ich bin‘ des Gottes Moses, auf den, ‚der da war und der da ist und der da kommt‘ der neutestamentlichen Apokalypse, auf das ens realissimum der christlichen Scholastiker. Diese Wirklichkeit ist die coincidentia oppositorum, die Einheit des Deus absconditus und des Deus revelatus, der zugleich unerkennbar und erkennbar, fern und nah, schauervoll und wonnevoll, zürnend und liebend, dem Menschen ‚unähnlich und ähnlich“ ist. Gleichwohl ist Religion nicht eine dialektische Lehre von dieser Wirklichkeit, sondern eine lebendige Erfahrung von ihr, ein Umgang, Verkehr, eine Gemeinschaft mit ihr. Diese Wirklichkeit ist ‚das Heilige‘. Sie erschöpft sich nicht in der Kategorie der Persönlichkeit, sondern ist zugleich überpersönlich, und zwar ebenso auf der primitiven Stufe wie auf der Stufe der höchsten Mystik. Das Persönliche, das Du an Gott, ist nur das ‚Kap der guten Hoffnung, das Vorgebirge eines Bergstocks, der sich mit seinem Massiv den Blicken verliert im ewigen Dunkel‘ (Rudolf Otto). Dieser Umgang mit dem Heiligen beruht nicht auf der menschlichen Initiative, sondern auf der zuvorkommenden göttlichen Gnade. ‚Du hast mich zuerst erregt, daß ich Dich suchte‘, betet der Verfasser der Nachfolge Christi. Und Pascal vernimmt von Gott die Antwort: ‚Du würdest mich nicht suchen, wenn Du mich nicht schon gefunden hättest‘. Als Umgang mit dem Heiligen vereint die Religion ‚Anbetung und Heroismus‘ (Friedrich von Hügel), das Niedersinken vor dem unfaßbaren Mysterium und die Bereitschaft, um der Liebe zu diesem Mysterium willen jedes Opfer zu bringen“.

Daraus zieht Heiler den Schluß: „Weil die in der Religion erfahrene göttliche Wirklichkeit nur eine ist, darum ist auch im Grunde nur eine Religion. Aber weil diese Wirklichkeit die Fülle schlechthin ist …, darum zeigt sich die eine Religion in einer unabsehbaren Mannigfaltigkeit von Erscheinungsformen. Die Religionswissenschaft kann nur von dieser Mannigfaltigkeit Zeugnis ablegen – Zeugnis aber auch von der die Menschenherzen beseeligenden Kraft dieser Wirklichkeit. Sie kann jedoch den nach dem Sinn, dem Wert und der Wahrheit der Religion Fragenden nur bis an die Schwelle des Heiligtums geleiten, aber nicht selber die Pforte öffnen, ja nicht einmal entscheiden, durch welche Pforte er in jenes eingehen soll; denn es sind viele Pforten und viele Vorhöfe, obgleich es nur ein Allerheiligstes gibt, in welchem der unsichtbare Ewige thront. Nur die Gnade schließt dieses dem suchenden Menschen auf; denn nicht der Mensch sucht Gott, sondern umgekehrt Gott den Menschen. Aber ehe nicht der Mensch in dieses innerste Gemach eingegangen ist, das nichts anderes ist als der tiefste Grund seiner Seele, kann er nicht den ‚Frieden‘ erlangen, der ‚höher ist denn alle Vernunft‘ (Phil. 4, 7). Von diesem Frieden kündet eines der meistzitierten religiösen Worte, das am Anfang von Augustins Confessiones steht, das nach dessen Absicht ein Zeugnis seines christlichen Glaubens sein soll, das aber in gleicher Weise aus dem Munde eines Neuplatonikers, der ja Augustin vor seiner Bekehrung war, hätte kommen können, ja, aus dem Munde eines Taoisten und Buddhisten, eines hinduistischen bhakta, eines jüdischen hassid und islamischen sufi: Inquietum est cor nostrum, donec requiescat in te (‚Unruhig ist unser Herz, bis es ruhet in Dir‘)“ (36 f.).

 

Anmerkungen

 

1] UNA SANCTA 1967/4.
2] Zitiert nach dem 153. Geschwisterbrief der Ev. Franziskaner-Bruderschaft der Nachfolge Christi (Februar 1992) S. 4.
3] Udo Tworuschka, Grenzgänger der Konfessionen und Liebhaber der Musen. In: DAS Nr. 4/24.1.1992, S. 16. Vgl. Heinz Röhr, Evangelische Katholizität. In: Ev. Kirchenzeitung 4/1992, S.8.
4] Friedrich Heiler, Mysterium Caritatis. Predigten für das Kirchenjahr. München 1949.
5] Walter Holsten, Art.: Religionswissenschaft. In: RGG3 V, Sp. 1038-1042.
6] Gerhard Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens I, Tübingen 1979, S. 208.
7] Friedrich Heiler, Das Gebet. Eine religionsgeschichtliche und religionspsychologische Untersuchung. München 1918.
8] Zitiert nach einem Manuskript von Heinz Röhr (Hess. Rundfunk 26.1.1992).
9] Ebd.S.6.
10] Heiler, Mysterium a.a.O. S. 239-242.
11] Ich beziehe mich hier auch auf ein unveröffentlichtes Manuskript von Uwe Gerber vom 31.3.1992 (Elementarisierung des Glaubens. Das Gebet, eine in der Schule unzeitige Praxis). Gerbers Ziel ist ein „nachtheistischer Pantheismus“.
12] Peter Cornehl, Theorie des Gottesdienstes – ein Prospekt. In: Theologische Quartalsschrift 159, 1979, Heft 3, S. 178-195; hier S. 186.
13] Friedrich Heiler, Katholischer und evangelischer Gottesdienst. München 21925, S.61f.

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