No. 282

Die Religion des Puritaners Richard Baxter und ihr Verhältnis zum orthodoxen Kalvinismus und der pseudo-kalvinistischen Erfolgsideologie

Zur Frage einer religiösen Vorbereitung des Geistes des Kapitalismus

Neue Fassung

No. 282 (2021)

Von Edmund Weber

  1. Kalvinismus vs. Pseudo-Kalvinismus

Die Vorstellung, daß Johannes Kalvin (1509-1564) und seine Nachfolger und Anhänger, zu denen auch Richard Baxter (1615-1691) gerechnet wird, den Geist des Kapitalismus vorbereitet hätten, weil ihnen weltlicher Erfolg, besonders auf dem Felde der Ökonomie, als Ausweis göttlicher Erwählung zur ewigen Seligkeit gegolten habe, ist zwar weit verbreitet, aber wenig glaubhaft.

Kalvin selbst ist definitiv kein Wegbereiter des Geistes des Kapitalismus gewesen[1].

Wenn Kalvins orthodoxen Nachfahren nachgesagt wird, religiöse Väter des Geistes des Kapitalismus gewesen zu sein, dann deshalb, weil man ihnen die Ansicht unterstellte, man könne die unerforschliche, weil freie göttliche Vorherbestimmung bzw. Prädestination zur ewigen Seligkeit an irdischen Merkmalen, insbesondere an wirtschaftlichem Erfolg, erkennen. Zwar hätten diese vermeintlich kalvinistischen Theologen mit ihrer Lehre von der Erkennbarkeit der Prädestination zur ewigen Seligkeit die existenzielle Grundidee Kalvins, daß diese freie Vorhebestimmung Gottes von allen Werken eines getauften Menschen völlig unabhängig sei, nicht in Frage gestellt, weil sie ja irdischen Erfolg keineswegs als Ursache der Prädestination verstanden hätten; doch wären sie davon überzeugt gewesen, daß insbesondere wirtschaftlicher Erfolg ein gewisses, weil erkennbares Zeichen der Erwählung sei.

Für Kalvin und seinen Nachfolgern wäre jedoch die Vorstellung, daß man die freie und daher gerade unerforschliche Vorherbestimmung auch nur im Geringsten erkennen könne, nichts anderes als eine blasphemische Ketzerei gewesen. Denn gemäß Kalvin und seinen orthodoxen Nachfolgern ist die Unerforschbarkeit der Prädestination das Herzstück ihrer Lehre. Unerforschlich ist die Vorherbestimmung, weil sie auf Gottes freier, d.h. unberechenbarer Entscheidung beruht. Diese Entscheidung ist, weil frei, auch – und dies ist wesentlich – auch der Zeit nicht unterworfen. Die Erkennbarkeit setzt aber die Möglichkeit einer zeitlichen Fixierung der Entscheidung voraus.

Deshalb kann die Prädestination zur ewigen Seligkeit auf keinen Fall empirisch erkannt, sondern – und das ist das urprotestantische Evangelium – nur geglaubt werden.

Glaube im urprotestantischen Sinne meint gerade die in weltlicher Hinsicht, d.h. was Verfüg-, Meß- und Machbarkeit angeht, völlig freie Hoffnung des Christen auf Gottes freie Prädestination zur ewigen Seligkeit.

Diese Freiheit der Hoffnung von allen eigenen empirisch identifizierbaren Werken schießt alle irdischen Merkmale, z.B. erfolgreiche Werke, als Zeichen der himmlischen Erwählung radikal aus. Deshalb verwarf Kalvin nicht nur die mittelalterliche Lehre, daß das ewige Heil sowohl von der Gnade Gottes als auch von religiösen und weltlichen Werken des Christen abhinge und damit berechnet und manipuliert werden könne, sondern ebenso die Vorstellung, daß man in der Lage sei, die eigene Erwählung an Werken zu erkennen.

Beide Ansichten zielen darauf ab, den freien und ungesicherten Glauben an Gottes freie und unberechenbare  Prädestination durch das Werk angeblich sicherer Erkenntnis empirisch feststellbarer Zeichen zu ersetzen.

Doch beruht der angebliche Erfolgskalvinismus oder besser gesagt Pseudo-Kalvinismus, dessen Drang nach existenzieller Sicherheit und Kontrolle mit Kalvins Theologie nichts zu tun hat, auf dem ideologischen Interesse, den Geist des Kapitalismus religiös zu begründen.

Diese pseudo-kalvinistische Religion bildete sich im späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts im damaligen Deutschland und noch stärker in den angelsächsischen Statten heraus.

Der faktische Sinn dieses bürgerlichen Zeichenmoralismus bestand darin, die frommen Protestanten, insbesondere die materiell erfolgreichen unter ihnen, davon zu überzeugen, daß der neue Geist des Kapitalismus gleichsam vom göttlichen Geist die religiöse Weihe erhalten habe.

Der Pseudo-Kalvinismus gebrauchte natürlich nicht die realistische Bezeichnung Kapitalismus, sondern verwendete dafür den kirchlichen Ausdruck Reich Gottes auf Erden bzw. The Kingdom of God on Earth.

Wenn auch nach Ansicht des Pseudo-Kalvinismus Werke nicht unmittelbar Ursache der Erwählung sind, so sollte doch die Idee der Erkennbarkeit der Prädestination zur ewigen Seligkeit die Frommen anspornen, noch intensiver durch Werke an ihrem irdischem Erfolg zu arbeiten, um sich so die Sicherheit der eigenen Erwählung sichtbar beweisen zu können. Dies bedeutete zugleich, daß auf kapitalistischem Handeln, das zum insbesondere wirtschaftlichen Erfolg führt, der Segen Gottes ruht.

Im Übrigen verschaffte nach Ansicht der Pseudo-Kalvinisten ihr irdischer Erfolg die Möglichkeit, die traditionelle Christenpflicht der Nächstenliebe, in Gestalt der Diakonie, an im Kapitalismus nichterfolgreichen Bedürftigen zu erfüllen. Diese Nächstenliebe der weltlich-erfolgreichen Protestanten stellte so etwas wie ein abgeleitetes Zeichen der Erwählung dar. Denn ein solches Werk der tatsächlichen und angemessenen Erfüllung der Christenpflicht war vom irdischen Erfolg abhängig. Das aber hieß, daß es nur den Christen, die mehr Vermögen erworben hatten als sie zum Erhalt ihrer Existenz benötigten, möglich war, effektive und gesellschaftlich-relevante Nächstenliebe zu üben, insb. durch reichhaltige Spenden und zum Teil großartige und langlebige Stiftungen. Diese Art von Diakonie prägt bis heute insbesondere die amerikanische Kultur.

Die Kehrseite dieses diakonischen Zeichenmoralismus bestand jedoch darin, daß der der freie Lohnarbeiter, dessen Arbeitslohn nur zum Lebensunterhalt der eigenen Familie ausreichte, im pseudo-kalvinistischen Sinne überhaupt kein guter Christ sein konnte. In letzter Konsequenz bedeutete dies, daß der Arbeiter (und alle anderen Bedürftigen) keine Hoffnung auf Erwählung hegen konnten.

Diese Vorstellung ist denn auch einer der Gründe dafür, weshalb z.B. in Deutschland große Teile der damaligen Arbeiterschaft  der von Adel und Bürgertum kontrollierten protestantischen Kirchen verloren gingen.

Diese Vorstellung, daß irdischer Erfolg und im Gefolge davon diakonische Werke der Nächstenliebe die eigene Erwählung zur ewigen Seligkeit bestätigten, diente auch dazu, das Vorantreiben der kapitalistischen Entwicklung als Arbeit am Aufbau des Reiches Gottes auf Erden anzusehen.

In Deutschland sah man die Hohenzollerndynastie als von Gott eingesetzte Schirmherrin dieser neuen Weltgestaltung, des Reiches Gottes auf Erden, an. Die Tatsache, daß diese Dynastie formell der reformierten Konfession angehörte, mag die Idee des Pseudo-Kalvinismus beflügelt haben.

Halten wir fest: Die pseudo-kalvinistische Religion auf den Kalvinismus zurückzuführen, ist unhistorisch. Sie diente zudem dem ideologischen Interesse eines kapitalistisch-orientierten protestantischen Bürgertums, das sich so der Moderne anpassen konnte.

Der Pseudo-Kalvinismus transformierte auf diese Weise den Protestantismus, dessen existenzielle Grundsätze sola fide / allein aus Glauben und sola gratia / allein aus Gnade ausmachen und dem somit die Erwählung zur ewigen Seligkeit nur als eine unverdiente und unerforschliche Gnade galt, d.h. unabhängig von irdischen Werken und Zeichenwerken, frei geglaubt werden kann, de facto in ein moralistisches Christentum weltlich-erfolgreichen Handelns. Die success-Kirche in den USA ist dafür ein besonders drastisches Beispiel.

Dieser christliche Moralismus eines Reiches Gottes auf Erden rief einen politisch-kulturellen Enthusiasmus hervor, der sich auch in den polit-ökonomischen Kolonialismus begleitenden Missionsbewegungen europäischer und amerikanischer Provenienz niederschlug. Mit dieser weltweiten Missionstätigkeit sollte die im Gebot der Nächstenliebe festgeschriebene Pflicht der erfolgreichen Erwählten Gottes durch Spenden und Stiftungen erfüllt werden, der sog. heidnischen Welt das >Evangelium< der neuen westlichen Zivilisation eben dieser erfolgreichen und daher auserwählten Christen den unzivilisierten >Eingeborenen< zu verkünden und sie dementsprechend umzuerziehen. Auf diese Weise gedachten viele Missionsorganisationen und ihre Auftrag- und Mittelgeber  unter den sog. Heiden den Aufbau eines irdischen Reiches Gottes auf Erden voranzutreiben. Diese die kolonisatorische Ausbeutung von Arbeitskraft und Rohstoffen begleitende Mission sollte also die Wilden des Urwalds (so Albert Schweitzer) zu frommem Christen machen, d.h. hieß in diesem Falle den westlichen ökonomischen Bedürfnissen  entsprechend zu >zivilisieren<, so daß sie insbesondere den modernen, d.h. kapitalistischen Arbeitserfordernissen angepaßte Arbeitskräfte, d.h. zunächst als  moderne Sklaven und dann immer mehr als freie Lohnarbeiter, werden konnten.

Während die pseudo-kalvinistische Erfolgsreligion auf das sichere Wissen der Erwählung zur ewigen Seligkeit abzielte, geht der Glaube im Sinne Kalvins davon aus, daß der Christ seine Erwählung nur glauben kann; der Glaubende aber zugleich weiß, daß die ewige Seligkeit an keinerlei Werken gebunden ist, auch nicht an solche, die er als Zeichen der Erwählung definiert. Aber das Glauben im strikt-protestantischem Sinne ist kein als Zeichen deklariertes Werk. Glaube r ist – so Kalvin –nur der Form nach ein Werk, substanziell aber hat er selbst gerade keine Erlösung bewirkende Funktion. Um diese bildliche Vorstellung zu sichern, lehrt er, daß der Glaube ein reines, d.h. unberechenbares und unverdientes Geschenk Gottes und eben kein existenzielle Sicherheit gewährleistendes Heilsmittel ist.

Aus der Prädestination im Sinne Kalvins folgt denn auch: Sowohl weltlicher Erfolg als auch materielle Erfolglosigkeit wie z.B. Armut sind weder Ursache noch Zeichen der Vorherbestimmung zur ewigen Seligkeit. Weder ein armer Lohnarbeiter noch ein erfolgreicher Unternehmer werden auf Grund ihrer persönlichen Werke oder sozialen Lage erwählt oder verworfen.

Die pseudo-kalvinistische Religion bereitete dagegen mit ihrer Zeichenlehre den Grund auch für die heute im Kirchenprotestantismus weit verbreitete Idee von Christlichkeit, daß man als ein nachweislich moralisch-guter Protestant nur anerkannt werden kann, wenn man diakonische und andere gute Werke erbringt. Der wahre Christ – berufen zur ewigen Seligkeit – ist danach allein der erfolgreiche Bürger, denn nur er kann Almosen spenden und zeitaufwendige, d.h. erwählungssignifikante gute Werke tun.

Durch die Zeichenlehre wurde aber gleichsam durch die Hintertür die Werkgerechtigkeit, gegen die der protestantischen Reformatoren einst kompromißlos revoltiert hatten, de facto wieder zum religiösen Grundprinzip erhoben. Die Religion des Evangeliums von der freien Gnade und des freien Glaubens wurde so in eine ethische Religion der Existenzgestaltung, der Kultur, umgeformt. Nunmehr erklärte der neuartige Kulturprotestantismus in seinem moralistischen Sinne gute Existenzgestaltung bzw. gutes Werk zum angeblichen Grund der Existenz. Doch der Grund der Existenz ist der freie, d.h. unbestimmbare Geist, der keines guten Werkes bedarf, um der Existenz Sinn und Wert zu verleihen oder auch zu verweigern. Diese ur-protestantische Existenzidee ist derzeit nur noch in den meisten Liturgien zu finden.

 

  1. Richard Baxter vs. Pseudo-Kalvinismus und Kalvinismus

Als Kronzeuge der pseudo- kalvinistischen Religion des weltlichen Erfolgs, die den Geist des Kapitalismus vorbereitet haben soll, gilt der britische Puritaner Richard Baxter (1615-1691).

Auch wenn eine solche Sicht dieses englischen Theologen und Seelsorgers weit verbreitet ist, zeigt schon ein Blick in dessen berühmtes 1673 veröffentlichtes Hauptwerk A Christian Directory[2], daß er weder dem orthodoxen Kalvinismus noch dem Pseudo-Kalvinismus folgte.

Baxters Doktrin geht zunächst von der allgemeinchristlichen Vorstellung des Sündenfalls aus, welcher die gerechte Verdammnis aller Menschen zur Folge hat. Gott hat jedoch den Menschen in einem freien Gnadenakt, dem Sühnwerk Jesu Christi, das alle der Hölle würdige Schuld aller Menschen, bis zum Ende der Zeiten angeboten, unter bestimmten Bedingungen zur ewigen Seligkeit zu gelangen. Aber eine bedingungslose bzw. freie Prädestination zur ewigen Verdammnis oder Seligkeit kennt Baxter nicht. Eine solche Vorherbestimmun stünde in kontradiktorischem Gegensatz zu seiner Lehre. Baxter setzt gerade darauf, daß der Christ allein dadurch zur ewigen Seligkeit gelangt, daß er sich an dem von Gott angebotenen  Heilsprozeß mit folgenden religiösen Werke freiwillig und persönlich beteiligt: 1. mit dem eigenen Werk der Annahme von Gottes Gnade, 2. mit dem eigenen Werk des Bekenntnisses der eigenen Sündhaftigkeit und 3. mit dem eigenen Werk der bußfertigen Reue über die eigenen Sünden.

Wenn Gottes freies Gnadenangebot im Werk der existenzieller Ergriffenheit angenommen und durch die anderen religiösen Werke angeeignet wird, geschieht  die empirisch feststellbare Wiedergeburt. Durch diese seelisch erlebte Wiedergeburt wird ein Mensch endgültig erlöst. Ein wahrer Christ ist daher nur der Wiedergeborene (engl.: the reborn).

Diese so erreichte Wiedergeburt bzw. Erlösung gibt dem Christen die Kraft, das Gesetz Gottes exakt und vollständig zu erfüllen.

Aber diese Wiedergeburt ist nicht existenziell so geschützt, daß sie unumkehrbar wäre, vielmehr kann sie jederzeit durch eigene vom Gesetz Gottes verbotene Werke verlorengehen. Die Bewahrung der Wiedergeburt hängt davon ab, daß der reborn das Gesetz Gottes bedingungslos, strikt und im Detail mittels eigener Werke befolgt. Die exakte und vollständige Befolgung des Gesetzes Gottes ist unbedingt notwendig, will der Wiedergeborene seine Wiedergeburt, seinen Gnadenstand, sichern und nicht aufs Spiel setzen, d.h. erneut der ewigen Verdammnis verfallen.

Um diesen Fall aus dem Gnadenstand zu verhindern, der ja für den Wiedergeborenen durch die Nichtbefolgung des Gesetzes Gottes hervorgerufen wird, führt Baxter in seinem Hauptwerk A Christian Directory alle zu befolgenden Einzelgesetze präzise auf. Diese Präzision ist notwendig, weil sie heilsrelevant  ist. Denn nur durch die tatsächliche, genaue und vollständige Kenntnis und Erfüllung aller Gebote Gottes kann der bekehrte und wiedergeborene Christ sich seine ewige Seligkeit erhalten. Wird der Wiedergeborene aber rückfällig (relapsus), übertritt er das Gesetz Gottes, ist er vollständig verloren.

Aber aus diesem erneuten selbstverschuldeten Zustand der Sünde, der die ewige Verdammnis im Gfefolge hat,  kann es dennoch wieder Rettung geben: durch ernstliche Bekehrung des rückfälligen Sünders (relapsus), durch die Reue der Zerknirschung des Herzens ob der begangenen Sünden (contritio cordis) und durch das Bekenntnis der Sünden (confessio peccatorm) mit daraus folgender Zusprechung der Vergebung der Sünden (absolutio peccatorum).

All diese religiösen Werke, die zu einer erneuten Wiedergeburt führen, verlieren aber stets ihren Wert, wenn der Wiedergeborene nicht sofort und weiterhin durch eigene Werke das Gesetzes Gottes vollständig erfüllt.

Baxter folgt somit nicht der Prädestinations- und Glaubenslehre Kalvins gerade nicht.

Da nun im Baxters Religion eine freie Prädestination keinen Platz hat, erweist sich für ihn die pseudo-kalvinistische Vorstellung von der Erkennbarkeit der Vorherbestimmung von vorneherein widersinnig.

Er folgt denn auch in gewisser Weise katholisierend der Erlösungslehre Lehre, nach der der Mensch zwar durch Gottes freie Gnade die Möglichkeit erhält, aus der ererbten und selbstverschuldeten Verdammnis erlöst zu werden, daß er aber alle Vorschriften des Gesetzes Gottes durch eigene religiöse und weltliche Werke bedingungslos zu erfüllen hat. Ohne diese Werke gibt es keinen Erhalt des Gnadenstandes. Nach dieser traditionellen Lehre ist die Vorstellung von einem transmoralischen Ratschluß Gottes, der unerklärbar das ewige Schicksal des Menschen prädestiniert, völlig absurd.

Doch im Gegensatz zur katholischen Doktrin setzt Baxter nicht so sehr auf den äußeren Vollzug von allein vom geweihten Priestern abhängigen Rituale, sondern verlegt diese in die Innenwelt des jeweils einzelnen Protestanten.

Ebenso wenig kennt Baxter den pseudo-kalvinistischen Gedanken der Erkennbarkeit der eigenen Prädestination zur ewigen Seligkeit anhand von äußerlichen Werken weltlichen Erfolgs.

Da es für Baxter keine Prädestination gibt, zumal keine unerforschliche, sind alle Versuche, sie zu enträtseln, völlig abwegig. Da das ewige Schicksal eines Christen an dessen ihm bekannten guten oder bösen Werken hängt, ist, um des eigenen Seelenheils willen, eine genaue und gründliche Gewissenserforschung, d.h. eine genaue Buchhaltung über gute und böse Werke  unerläßlich. Eine präzise Kenntnis der jeweiligen existenziellen Situation. Dazu ist eine ständige Überprüfung des aktuellen Gnadenstandes oder dessen Verlusts unbedingt geboten, nicht zuletzt, um auch die eigene Kontrolle über das eigene Schicksal zu behalten. Präzises Wissen und strenge Kontrolle sind besonders dann gefordert, wenn der Verlust des Gnadenstandes droht.

Baxters Erkennbarkeit des eigenen Schicksals anhand der selbstgeleisteten Werke hat daher mit der Erkennbarkeit der von eigenen Werken unabhängigen Prädestination eines Pseudo-Kalvinismus nichts zu tun.
Entscheidend aber ist, daß für Baxter die erkennbaren eigenen Werke wesentlicher Bestandteil des Heils- bzw. Unheilszustands sind. Ohne Wissen um die eigenen Werke, ob sie dem Gesetz ent- oder widersprechen, gibt es folglich auch keine Heilsgewißheit. Das heißt aber dann auch, daß Sola fide / allein aus Glauben und sola gratia / allein aus Gnade für die Heilsgewißheit keine substanzielle Bedeutung haben.

Hierbei muß festgehalten werden, daß sich nach Baxter das Gesetz Gottes nicht auf religiöse Belange beschränkt, sondern alle Angelegenheiten des irdischen Lebens und Sterbens verbindlich regelt.

Doch sind die Einzelgesetze nicht zur rationalen Regulierung aktueller Lebensverhältnisse im Sinne eines neuen Geistes, z.B. des Kapitalismus, gedacht; sie werden vielmehr Gesetzessammlungen archaischer Gesellschaften entnommen und als absolut geltendes Recht in die Gegenwart transportiert. Als unmittelbare und unumstößliche Gebote Gottes verstanden sind sie selbst angesichts geschichtlicher Umwälzungen dennoch nicht veränderbar. Ein durch historische Umstände notwendig gewordenes neues Gesetz Gottes kann es daher nicht geben.

Dieser Gesetzestraditionalismus hat seinen Grund nicht in einer gleichsam reaktionären politischen Gesinnung, sondern allein darin, einen Katalog von Handlungsanweisungen zur Verfügung zu haben, dessen Erfüllung nicht die irdische, sondern einzig und allein die ewige Seligkeit garantiert. Baxters Moraltheologie zielt denn auch nicht auf die geistige Vorbereitung der Gestaltung der neuen Welt des Kapitalismus, des liberal- oder kulturprotestantischen Reiches Gottes auf Erden. Auch wenn einige archaische Vorschriften modernen Anforderungen entsprechen sollten, so wäre dies zufällig. Sinn und Zweck der archaischen Gesetzesvorschriften besteht allein darin, dem Wiedergeborenen sichere Mittel zur Gewinnung und Erhaltung der ewigen Seligkeit an die Hand zu geben, nicht aber als Mittel zur Erkenntnis der allein von Gott bestimmten Erwählung.

Die historisch-vernünftige Gestaltung der Welt, zu welchem Zweck sie auch immer bestimmt sein mochte, gilt Baxter nicht als substanzieller Zweck des Gesetzes Gottes.

Die luthersche Vorstellung, daß das Gesetz Gottes gerade nicht zur Gewinnung des ewigen Heils dient, sondern allein zur Organisation des irdischen Lebens der Menschen miteinander bestimmt ist, daß man also gegebenenfalls neue Dekaloge für eine neue Gesellschaftsformation zu entwickeln hat, wozu die Menschen von Gott die Vernunft erhalten haben; so daß sie das Gesetz Gottes zeitgerecht ausgestalten: eine solche Vorstellung wäre nach Baxter, dem Gesetzestraditionalisten, eine Katastrophale für das Seelenheil der Christen.

Baxters Erlösungs- bzw. Werkelehre ist strikt auf die Ewigkeit ausgerichtet; sie übernimmt keine Verantwortung für die zeitgerechte Entwicklung, Formulierung und Durchsetzung des Gesetzes Gottes.

Wenn also der Grund für diesen Gesetzestraditionalismus darin besteht, daß die biblischen Gesetzesvorschriften zugleich und vor allem als entscheidende  media salutis, als Mittel zum ewigen Heil, angesehen werden, dann dürfen die Vorschriften des Gesetzes auf keinen Fall der von Gott den Menschen verliehenen Vernunft unterworfen werden. Denn wenn das Gesetz Gottes stets von den jeweiligen neuen Gesellschaften in einem unendlichen und kontroversen Diskurs erst noch zu ermitteln, zu erkämpfen und zu erstellen sind, dann taugen die Werke des historisch vernünftigen, aber stets auch strittigen Gesetzes nicht als sichere Heilsmittel; dann gibt es keine existenzielle Sicherheit für das auf die Gesetzeswerke setzende Gewissen.

Das Bedürfnis nach gesetzlicher Sicherheit führt Baxter denn auch dazu, auf der absoluten Gültigkeit der Gesetzesvorschriften einer archaischen Gesellschaft auch für die Gestaltung seiner eigenen Existenz zu beharren.

Damit aber werden der Entwurf und die Entwicklung einer modernen, hier kapitalistischen Gesellschaftsordnung, weder in der Sache gefördert noch moralisch gerechtfertigt.

Auch der abstrakt-unbedingte Gehorsam, der dem archaischen Gesetz zu zollen ist, sowie die damit verbundene ethische Disziplin, fesseln den Frommen nur fester an archaische, d.h. historisch überlebte Verhaltensweisen. Bar jeder historischen Vernunft können solche Verhaltensweisen in der Phase des Übergangs der Gesellschaftsformen, hier des Feudalismus zum Kapitalismus, subjektive Sicherheit vermitteln. Der objektiven Entwicklung der neuzeitlichen Kultur entsprechen sie gerade nicht. Noch weniger können solche Verhaltensweisen die neuen gesellschaftlichen Prozesse der Moderne weder geistig hervorrufen noch praktisch vorantreiben.

Baxters archaisierende Gesetzesreligion, die dem Frommen die Sicherheit des Himmels gewähren soll, begreift die biblischen Moralvorstellungen deshalb nicht als zeitbedingt, weil sie ganz unmittelbar als unabänderliche heilsnotwendige und heilbewirkende Handlungsanweisungen versteht. Sie dienen gerade nicht einer rationalen Gestaltung einer sich ständig ändernden Welt.

Die Enthistorisierung geschichtsabhängiger Moralvorstellungen hat gleichsam die Aufgabe, für den Frommen von solchen Unwägbarkeiten, die Vernunft und gerade auch der reformatorische Glaube bedeuten, den Schein der machbaren Sicherheit zu erzeugen.

Man erkennt, daß Baxter und seine geistlichen Verwandten weder auf ungesicherten Glauben allein noch auf werkunabhängige Gnade oder Prädestination setzen.

Da aber auch die Bekehrung, d.h. die Wiedergeburt, eigenes Werk – sozusagen das vom Menschen zu erbringende Ur-Werk der Erlösung – ist, ziehen Baxter und seine Nachfahren den Weg einer archaisch bestimmten Werkgerechtigkeit vor. Ein solcher moralischer Archaismus mit der Zielsetzung der Erlangung der ewigen Seligkeit im Jenseits kündigt aber nicht den neuen Geist des rein irdisch gesonnenen Kapitalismus an und bringt ihn schon gar nicht hervor.

Baxters historisch erstarrte Gesetzesreligion folgt nicht der urprotestantischen Existenzidee einer werkfreien Erlösung und einer vom Erlösungswerk unabhängigen Weltgestaltung; sie folgt vielmehr eher der damaligen katholischen Moraltheologie, die die zentrale Bedeutung der eigenen kultischen und weltlichen Werke für das Heil der Seele im Jenseits lehrt. Aus der Rezeption der katholischen Werkgerechtigkeit resultiert denn auch logischerweise Baxters strenge ethische Disziplin. Diese ist aber in allen noralistischen Religionsformen zu Hause; sie ist nicht von Baxter erfunden und daher schon gar nicht wie angenommen dessen einzigartiger und entscheidender Beitrag zur Entstehung des Geistes des Kapitalismus.

Für den durch die technisch-ökonomischen Entwicklungen westlicher Gesellschaften entstehenden Kapitalismus ist gerade die traditionalistische Gesetzesreligion Baxters völlig wertlos und kontraproduktiv. Baxters Modell orientiert sich an einem historisch überlebten Gesellschaftsmodell und steht quer zu den ideologischen Bedürfnissen des die Moderne bestimmenden Kapitalismus.

Ob es einen spezifischen Geist des objektiven Kapitalismus überhaupt gibt, sei dahingestellt, aber Baxters Gesetzesreligion hat mit einem solchen Geist wenig zu tun.

Die sozialökonomische Gesellschaftsformation des Kapitalismus bedient sich wie alle seine Vorgänger aller möglichen subjektiven Ideologien, die sich dazu eignen, seine Natur zu rechtfertigen und ihm ggfs. zweckmäßige Motivationsideen bereitzustellen.

Aber Baxters sozialökonomische Vorstellungen erweisen sich als anachronistisch, wenn er z.B. Sklaverei verteidigt oder die auf freien Vertrag beruhenden Beziehung von Lohnarbeitern zu ihren Arbeitgebern als ein auf Treue beruhendes Verhältnis von servants und lords bezeichnet.

Man sieht: Von modernen kapitalistischen Arbeitsverhältnissen von freien Lohnarbeitern und ebenso freien Kapitalisten weiß Baxter nichts; ist doch im archaischen Gesetz von kapitalistischen Verhältnissen nicht die Rede.

Zudem dienen das traditionalistisch-fixierte Gesetz samt der traditionellen Disziplin zur Erfüllung des Gesetzes nur dem Ausweis des himmlischen, nicht aber des irdischen Erfolgs.

Wenn aber irdischer Erfolg den Geist des Kapitalismus widerspiegeln soll, dann hält Baxter dem entgegen: Ob ein Werk des Gesetzes zu irdischem Erfolg oder irdischen Mißerfolg führt, ist für Erkenntnis und Erwerb des ewigen Seelenheils völlig bedeutungslos. Irdischer Erfolg und entsprechende Disziplin gehören für Baxter höchstens in den Bereich der Versuchung des sündigen Fleisches.

An irdischem Erfolg und Mißerfolg läßt sich also ewiges Seligkeit oder Verwerfung niemals ablesen.

Und dennoch läßt sich der Stand der Erlöstheit bzw. Unerlöstheit erkennen: Wer nämlich alle Werke des Gesetzes tut, aber keinen irdischen Erfolg hat, kann dennoch auf Grund guter Werke der ewigen Seligkeit sicher sein. Und wer das Gesetz erfüllt und dabei irdischen Erfolg erringt, kann ebenso der ewigen Seligkeit sicher sein. Desgleichen werden diejenigen Christen, welche die Werke des Gesetzes – und dazu gehört vorrangig die Wiedergeburt – nicht tun, verdammt, ob sie nun irdischen Erfolg errungen oder nur Mißerfolg erleiden.

Es geht Baxter nicht um eine den Bedürfnissen einer neuen Zeit angemessene Gestaltung irdischer Verhältnisse. Die Erfüllung des Gesetzes ist ein extra-rationaler Akt des blinden Gehorsams, dessen Funktion im Erwerb allein der ewigen Seligkeit besteht.

Von einem den Geist des Kapitalismus vorbereitenden Pseudo-Kalvinismus ist daher bei Baxter nichts zu finden.

Ein Kronzeuge für den neuen Geist, der den Kapitalismus vorbereiten soll, ist Baxter daher wahrlich nicht.

Aber auch -und das ist besonders hervorzuheben – mit Kalvins und Luthers Lehre vom ungesicherten Glauben an die umsonst gewährte Gnade als Grund der Existenz hat Baxters Religion nichts zu tun.

  1. Zusammenfassung

Baxter ist ein Kronzeuge für das Eindringen der Idee der Werkgerechtigkeit der damaligen scholastischen Gesetzesreligion die  in den Protestantismus; er ist daher kein Kronzeuge für den Kalvinismus und ebenso nicht für eine pseudo-kalvinistische Vorbereitung eines Geistes des Kapitalismus.

[1] Edmund Weber: Johannes Kalvin: Ein Wegbereiter des Geistes des Kapitalismus? In: Journal of Religious Culture Nr. 240, 2018

[2] A Christian directory, or, A summ of practical theologie and cases of conscience directing Christians how to use their knowledge and faith, how to improve all helps and means, and to perform all duties, how to overcome temptations, and to escape or mortifie every sin : in four parts … / by Richard Baxter. (1673). Siehe z.B. https://quod.lib.umich.edu/e/eebo/A26892.0001.001?view=toc.