Nr. 22 (1998)

Der Diebstahl der Flöte
Eine Krishna-Lila als Gegenstand diakritischer Theologie

Nr. 22 (1998)

von His Holiness Bhakti Caru Swami (Calcutta)

Gegenstand und Aufgabe diakritischer Theologie
Die von Martin Luther ausgelöste und profilierte Geistesrevolution des 16. Jahrhunderts hat der Theologie einen neuen Gegenstand und eine neue Aufgabe erschlossen, die bis heute ihre Gültigkeit nicht verloren haben. Danach ist nicht Gott Gegenstand dieser Theologie, sondern Gesetz und Evangelium; und ihre Aufgabe besteht nicht im Entwurf von Gottesbildern, son-dern im discrimen inter legem et evangelium, in der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium.

In dieser theologischen Selbstbestimmung, die wegen ihrer einzigartigen Aufgabe

diakritische, d.h. unterscheidende Theologie genannt werden soll, wird die geistige Erfahrung der abendländisch-christlichen Idee von Jesus Christus oder vom Filius Dei im Horizont neu aufkommenden Bewußtseins auf den protestantischen Begriff gebracht.

Martin Luther hat mit der ihm eigenen Radikalität und Klarheit seine religiöse Erfahrung, die ihn zum diakritischen Theologen werden ließ, prägnant und programmatisch formuliert: „Zuuor mangelt mir nichts, denn das ich kein discrimen inter legem et euangelium machet, hielt es alles vor eines et dicebam Christum a Mose non differre nisi tempore et perfectione. Aber do ich das discrimen fande, quod aliud esset lex, aliud euangelium, da riß ich her durch.“[1] Das Gewaltige dieses Herdurchrisses liegt in der Erkenntnis, daß Gesetz und Evangelium sich radikal von einander unterscheiden: „Ein jglicher Gottseliger und der ein rechter Christ sein will, soll wol lernen, daß das Gesetz und Euangelium zwei ganz widerwärtige Ding sind, die sich mit oder neben einander nicht leiden noch vertragen können.“[2] Daß die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium die der Theologie eigentümliche Kunst ist, die sie überhaupt erst zu einer solchen werden läßt, daran läßt Martin Luther ebenfalls keinen Zweifel: „Darum sage ich, daß man das Gesetz und Euangelium lerne recht und eigentlich unterscheiden; denn wer das kann, der danke unserem Herrn Gott, und mag für ein Theologen wol bestehen.“[3]

Das Gesetz der immanenten Liebe
Die wirksame Idee des Menschen, seine ihn selbst gestaltende Kraft, ist die ihm immanente Liebe. Ohne sie könnte er nicht existieren; sie ist ihm eingegeben, nicht aufgegeben, sie ist seine allgemeine Natur, nicht Minderheiten vorbehalten. Diese eingeborene Liebe kann und wird durch geschichtliche Umstände, durch die Evolution der Hochkulturen insbesondere, verborgen und unterdrückt, so daß sich die Illusion herausbilden konnte, sie könne im Laufe des Lebens entstehen und vergehen; sie sei also entweder zunächst gar nicht vorhanden und müsse erst noch erworben werden oder aber sie sei vorhanden, könne aber nachträglich verloren gehen.

Die erste Illusion erzeugt Begierde nach Liebesgewinn [4], die zweite Angst vor Liebesverlust. Der tiefere Grund aber für die Gewalt dieser Illusionen liegt in der Bestreitung des Wesenscharakter der Liebe und ihre Reduktion auf Liebes-Werke. Die Suggerierung der sinnstiftenden Bedeutung eben dieser Liebes-Werke macht die Gesetzes- oder Liebesfrömmigkeit aus. Die Religion der Liebes-Werke jedweder Art pervertiert den Wesenscharakter der Liebe als infinites Gesetz, als einfaches Da, dem selbstlose Sorglosigkeit entspricht, zum imperativen Gesetz, macht die Liebe zum Objekt der Sorge des Selbsts.

Das Evangelium der transzendenten Liebe
Das Evangelium dagegen ist frohe oder schöne Kunde von einer anderen Liebe; von einer Liebe, die den Menschen umfängt, jenseits von konstruktiven oder destruktiven Ideen seiner Existenz. Während die Liebe, die sich im Gesetze meldet, die aus der faktischen Vollkommenheit des existierenden Menschen sich ergebende Seelenkraft, die zur Verwirklichung drängt, meint, ist diese Liebe die Idee der Freiheit der menschlichen Existenz von der Geset-zesfrömmigkeit, vom Gewissen [5]; sie bringt den der immanenten Liebe sich hingebenden Menschen, den, der das Werk der immanenten Liebe als sinnstiftenden Existenzakt versteht, auf den Gedanken, daß er in immanenter Vollkommenheit und Unvollkommenheit, in Haß und Angst, in jedwedem Schicksal, in seiner Erwähltheit oder Verworfenheit, immer schon gerechtfertigt sein könnte. In dieser schönen Kunde sprechen Menschen von der Transzendenz menschlicher Existenz, von deren Unverfügbarkeit, davon, daß die Menschen nicht die omnipotenten Richter, Herren und Schöpfer ihrer selbst sind. Diese Idee nun, die von vielen Menschen als schöne wahrgenommen wurde und wird, hebt nicht unbedingt das Gefüge der Werke, der menschlichen Selbstverwirklichung auf, wohl aber ihre Allmacht. Diese Idee ist vielmehr der ewige Begleitgesang zu Elend und Glück der Menschen. Das Evangelium redet von dem transzendenten Ganz-Anderen, daß den Menschen nicht zur Hand, nicht von Nutzen ist, seiner Verwertbarkeit sich entzieht und ihn in tiefste Ungerechtigkeit stürzt. Es verkündet die (wirksame) Idee, daß wie immer die dem Menschen immanente Liebe verwirklicht wird, sei es als Freigebigkeit oder als Begierde, er dennoch in seiner Tatsächlichkeit endgültig nicht sich loben oder verdammen kann, daß er sich selbst nicht beurteilen kann, weil überhaupt nicht beurteilbar ist. Diese Idee der radikalen Transzendenz menschlicher Existenz schließt den Mißbrauch der immanenten Liebe als Maßstab menschlicher Wahrheit nicht aus, führt aber den glühenden Verehrer dieser Liebe in die Irre.

Die Unterscheidung von immanenter und transzendenter Liebe
Die transzendente Liebe des Menschen, von der die schöne Kunde, das Evangelium, spricht, ist der Grund der Freiheit des menschlichen Bewußtseins von seiner eigenen Selbstverwirklichung. Die der Existenz immanente Liebe, die im Gesetz sich meldet, ist dagegen der Grund der Freiheit des Menschen von seiner Sinnverwirklichung. Der Unterschiedlichkeit der beiden Weisen von Liebe des Menschen entsprechen unterschiedliche Weisen des angemessenen Verhaltens: Die immanente Liebe gilt es zu bewähren, wahr werden, gewähren zu lassen; die transzendente Liebe gilt es als wahr zu nehmen, wahrzunehmen.

Die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium hält den Gedanken fest, daß Begierde nach Sinngebung und die Angst vor Sinnverlust von selbst-loser Sinnlosigkeit in ihrer Allmacht erschüttert werden oder daß das Wesen des Menschen in seiner auch von ihr selber freien Liebe besteht.[6]

Die Lila vom Diebstahl der Flöte
Nach dieser Bestimmung und Aktualisierung von Gegenstand und Aufgabe diakritischer Theologie soll nun der Versuch gewagt werden, mit ihrer Hilfe ein modernes Zeugnis des religiösen Selbstverständnisses von Menschen theologisch zu interpretieren, die zwischen Agra und Delhi leben, im Braj, dem Lande Krishnas oder genauer im Königreiche Radhas; ein Zeugnis von den Brijbhasis also, die gemeinhin und zu Recht der Religion der Hindus zugerechnet werden.

Krishna wird von den Brijbhasis als Hirten-junge, als einer von ihnen also, angesehen und als solcher auf vielfältige Weise kultisch vergegenwärtigt: im Sprechen des Mahamantra, im Rezitieren der Hare-Krishna-Verse, ebenso wie im Kirtana, dem Singen seines Namens, als auch in den Murtis, seinen Bildgestalten in Tempeln, Häusern und offenen Plätzen; am anziehendsten wirkt Krishna jedoch in den meist von Brahmanenjungen gespiel-ten heiligen Geschichten, den Krishna-Lilas. Diese sind dramatische Epiphanien des Kuhhir-tenjungen und der Brijbhasis. In diesen Kultdramen wird nicht Theater gespielt, sondern das den jeweiligen Brijbhasis Heiligste öffentlich thematisiert und regelrecht diskutiert. Das, was die Brijbhasis unbedingt angeht, das wird von den Lila-Spielern in einem religiösen Diskurs mit dem Heiligen durchgearbeitet. Die Realpräsenz Krishnas und seiner Leute in der Lila demonstriert den normativen Charakter der Lilas, zeigt, daß in ihnen für die Brijbhasis das Ab-solut-Gültige auf dem Spiele steht.[7] – Ein solches Kultdrama ist auch die Lila vom Diebstahl der Flöte Krishnas durch die Gopis, den Hirtenfrauen.[8] Die Gopis verschwören sich, die Flöte zu stehlen, weil diese eine solche Macht über sie gewinnt, wenn Krishna sie spielt, daß sie wider Willen alle ihre jeweiligen Aufgaben in Haus und Hof vergessen und in den Wald zu Krishna eilen, um wie von Sinnen mit ihm im Kreise herum zu tanzen. Auf schlaue Weise gelingt ihnen der Diebstahl. Als Krishna aber an die Königin des Braj, Radha, die ebenfalls an der Verschwörung beteiligt ist, appelliert, ihm Gerechtigkeit widerfahren zu las-sen und ihm sein Eigentum, die Flöte, wieder zu beschaffen, gibt diese nach einigem Hin und Her seinem Antrag statt. Als die Gopis noch schnell als Bedingung durchsetzen wollen, daß Krishna aber nur dann die Flöte blasen dürfe, wenn sie ihr Tagewerk vollbracht hätten, lehnt dieser ein solches Ansinnen entschieden mit dem Argument ab, daß er dann sicher nie blasen könne, arbeiteten sie doch immerzu. So schlägt die Verschwörung der Gopis fehl, und es bleibt alles beim alten. Krishna bläst wann er will, und die Gopis sind sich nie sicher, wann der Klang der Flöte ertönt und sie zum Gespött der Leute werden.

Anschaulich besingen die Gopis in Klageliedern ihr Leid:
Some poor girl has gone today, my friend, she’s unable even to dress herself. Her mother can do nothing but pray to the gods, and her mother – in – law has summoned the exorcists.[9]
Who enchanted this wandering cow by playing his beautiful bamboo flute? Whenever her ear encounters the sound she bids all propriety farewell, Wending her way to Nanda’s [10] door What’s to be done with this newlywed girl? Where, says, Rakshan, is a woman in Braj that Krishna’s not whirled and spun like a top?[11]
One girl hears and trips and falls, another falls unconscious all, others can’t restrain their eyes from pouring forth the tears inside. Captain of emotion, you who’ve captivated the women of Braj, why is he to hunt us down and make us figures of ridicule?[12]

Gesetz und Evangelium in der Lila vom Diebstahl der Flöte
Diese Lila in den Untersuchungsbereich diakritischer Theologie einzubeziehen, heißt fragen, ob, wo und wie denn hier Gesetz gepredigt, Evangelium verkündet und Gesetzesfrömmigkeit gepflegt wird.

Ganz offenkundig lieben die Gopis ihr alltägliches Leben und Wirken. Kein Zweifel wird daran laut. Sie leiden nicht an und in dieser Welt, sie beklagen nicht ihre Pflichten, ihre Ehemänner, Kinder-, ja noch nicht einmal ihre Schwiegermütter sind ihnen eine be-sondere Last. Auch wird nicht berichtet, daß die Gopis ihre Aufgaben und Pflichten vernachlässigten. Sie sind anständige, arbeitsmotivierte und lebensfrohe Frauen. Sie erfüllen das Ge-setz der immanenten Liebe, lieben sie doch ihren Nächsten und achten sie auch die Götter. Die Gopis existieren nicht im Zorn wider das Gesetz.

Die Liebe, die das Gesetz einklagt, entfalten sie frei und froh; sie leben also im Frieden mit sich und der Welt. Irgendein Betteln um göttliche Gnade oder irgendein heimliches Sehnen nach dem Jenseits ihrer Welt liegt ihnen von Hause aus ganz fern.

Halten wir fest: Die Ausgangsposition der Lila ist die praktische Konvergenz der Gopis in Gedanken, Worten und Werken mit dem Gesetz. Sie brauchen zu ihrem Glück nichts anderes mehr. Und schon gar nicht Krishna.

Dieser Frieden im Gesetz der immanenten Liebe, der Liebesfrieden wird nun aber immer wieder gestört. Die Gopis er-leben, daß die Welt ihrer Liebe aus den Fugen gerät, daß sie verrückt werden, daß sie ihre freie und frohe Liebe nicht mehr ausleben können, daß sie wider Willen und Neigung das Gesetz verlassen, die immanente Liebe von ihren Objekten getrennt wird. – Diese Trennung von ihren Liebeswerken macht ihnen entsetzliche Angst, sie fühlen sich zu Tode erschrocken. Deshalb arrangieren sie eine kriminelle Konspiration gegen die Flöte Krishnas, verführen sie dessen Freund, einen Brahmanen, und mißbrauchen die Obrigkeit.

Die offenbar existenzgefährdende Lage wird durch Krishna, der nur ein Asylant in ihrem Lande ist, hervorgerufen. Durch das Spielen auf der kleinen Bambusflöte reißt er die liebevollen Gopis aus ihrer vertrauten und geliebten Welt, treibt sie in seine Arme und stürzt sie dadurch gegen ihren Willen und ihr Wünschen in Angst und Schrecken.

Der Brijbhasi, der diese Krishna-Lila komponierte, unterstellt den Gopis gerade nicht, daß sie eigentlich schon immer, wenn auch heim-lich, den Krishna liebten und nur darauf lauerten, dem ihnen in Wahrheit lästigen Gesetz des weltlichen Lebens zu entfliehen. Die Idee der Brijbhasis ist vielmehr, daß sie das Gesetz nicht als vernichtenden Dämon erleben, von dem sie sich wegflüchten möchten in die lieblichen Arme des reizenden Mohan; die Idee ist vielmehr, daß die Gopis durch den süßen Klang der Flöte zu das Gesetz transzendierenden Handlungen getrieben werden – wider ihre Neigung, Lust und Absicht.

Die durch die Flöte erweckte Liebe zu Krishna, die einen Feuersturm im Braj entfacht, erleben die Gopis als Entfremdung von ihrer Welt, von sich selbst. Es ist eine magisch manipulierte Liebe, die das Liebesobjekt unverdient erhält.

Die Konspiration der Gopis zeigt, daß der Knecht der Flöte sie aus einer Welt reißt, die mit dem Dharma in Über-einstimmung ist und ihre uneingeschränkte Zuneigung erfährt.[13] Die Gopis führen also ein erfülltes Leben der Liebe. – Allein wenn der süße Klang der Flöte Krishnas ertönt, verlassen die Gopis gezwungenermaßen den Dharma. Auch wenn sie nicht die Liebe dazu verlieren, gerät ihre Weltanschauung in eine abgründige Krisis, die keinen Ausweg zuläßt. – Die Welt-anschauung der Brijbhasis drückt eine existentielle Idee aus, die eine unauflösliche Dialektik von lustvoller Dharma-Existenz und verzauberter Außerkraftsetzung derselben in sich birgt. Die unberechenbare Außerkraftsetzung der Kultur der immanenten Liebe wird von dem ober-sten Prinzip der Dharma-Welt, der Gerechtigkeit, legitimiert. In unserer Geschichte zeigt sich dieser dialektische Vorgang, der Umschlag des Dharma in sein Gegenteil durch sich selbst, in Gestalt der Radha, die als Königin des Braj Sachwalterin der Gerechtigkeit ist und dies so radikal, daß sie gegen ihre eigene Konspiration dem Recht der Außerkraftsetzung zum Siege verhilft.

In Radha drückt sich im höchsten Maße die offen eingestandene Widersprüchlichkeit der Existenz der Brijbhasis aus: Ihre gewollte Identität in der immanenten Liebe und deren nicht weg zu heuchelnde Transzendenz durch die unwillentliche Verzückung und Verhexung durch Krishnas Flötenspiel, das sie zu Nandas Tür treibt.

In dem Klang der Flöte, deren Diener Krishna ist, klingt die schöne Botschaft von den Ufern der Yamuna herüber. Sie schert sich nicht um Dharma hinduistischer, buddhistischer, islamischer, jüdischer, christlicher oder atheistischer Provenienz; sie betört Gopis wie sie einst den Apostel Paulus zum Toren werden ließ.
Die Gesetzesfrömmigkeit der Gopis oder ihre Todesangst vor dem Evangelium
Wenn die Gopis sagen, daß Krishna ihnen Unglück und Tod bringe, so offenbaren sie trotz all ihrer immanenten Liebe doch eine große Furcht; die große Furcht vor der Erfahrung, daß der Dharma nicht das alleinige Absolut-Gültige sei, daß sie der vertrauten Welt der immanenten Liebe entfremdet werden können. Die Furcht vor dieser Entfremdung läßt erkennen, daß sie das Gesetz der immanenten Liebe als absolute Grenze ihrer selbst verstanden haben, damit aber der Gesetzesfrömmigkeit huldigen. Dieses Verhältnis zum Gesetz, das jenseits der ursprünglichen Bedeutung desselben liegt, führt dazu, daß die Gopis der Liebe, die sie leben, einen Sinn geben, der außer deren Sein liegt: die Sicherung ihrer Existenz. Damit aber ist ihre Liebe nicht mehr nur, vielmehr bedeutet sie etwas, hat sie einen Zweck, den sie bedient. Sie ist keine freie Liebe, die frei von sich selbst ist; d.h. die auch in sich nicht den Sinn des Lebens und Sterbens sieht.

Diese Gesetzesfrömmigkeit wird in der Lila ständig erfahren und vergegenwärtigt; sie wird nicht verdrängt und verleugnet, vielmehr als eines der Hauptargu-mente wider Krishna anerkannt. Diese Wahrhaftigkeit der Brijbhasis ist von unschätzbarem Wert. Sie läßt begreifen, weshalb sie die transzendente Existenz-Liebe als Scheitern und Niederlage darstellen. Sie gibt ihnen aber zugleich auch die Möglichkeit, diese Gesetzesfröm-migkeit, wiewohl immer erhalten, in der Verzückung durch Krishnas Flöte zu transzendieren.
Die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium in der Weise der Brijbhasis
Indem die Gopis mit dem Grundaxiom des Gesetzes, der Gerechtigkeit, was ihnen das liebste und teuerste ist, sich selbst daran hindern, die Möglichkeit der unverfügbaren Existenz-Liebe auszulöschen, wie wohl sie es möchten, halten sie Gesetz und Evangelium auseinander. Dies aber geschieht nur, indem sie die Todesfurcht vor dem Evangelium Krishnas durch den Ur-teilsspruch ihrer Königin Shyama bestehen lassen und ihre Religion der immanenten Liebe, ihre Liebes- bzw. Gesetzesfrömmigkeit, nicht mit Schein-Bhakti verbergen. Die Lila vom Diebstahl der Flöte zeigt die ganze Kraft des Evangeliums, das sich um die Gesetzesfrömmigkeit nicht schert, sie nicht verwirft, höchstens verwirrt. Mit dem Ausgang des Prozesses Krishnas gegen die Gopis bekunden die Brijbhasis auf ihre ästhetische Weise die Idee des simul iustus ac peccator. Indem die Lila keine Lösung des Konflikts anbietet, werden die Brijbhasis in ihrer Liebesexistenz ihrer selbst nicht sicher sein können, und sie dennoch weiterhin nichts anderes sich wünschen. Das Ärgernis der Flöte, das Skandalon der sie bewirkenden Torheit, können sie nicht mit ihrem Grundgesetz, der Gerechtigkeit, besiegen; denn ihre Gerechtigkeit hat sich selbst durch sich selbst gefesselt: das Evangelium Krishnas ist tabu für das Gesetz der Gerechtigkeit, ist sein Ende.

Zusammenfassung
Die Brijbhasis haben spielerisch erfaßt, was auch in der diakritischen Theologie die Unter-scheidung von Gesetz und Evangelium meint. Die Widerwärtigkeit und Unverträglichkeit der beiden erleben sie in der Lila vom Diebstahl der Flöte in einer Härte, die nichts zu wünschen übrig läßt. Auch hier gilt, was Heiko Oberman über Martin Luthers Satz: „Welt und Vernunft haben keine Vorstellung, wie schwer es zu erfassen ist, daß Christus unsere Gerechtigkeit ist, so tief steckt in uns – wie eine zweite Natur – das Vertrauen auf die Werke“ sagt: „Es ist nichtder Intellekt, dem das Evangelium zu ’schwer‘ ist, sondern das Evangelium ist dem Menschen zuwider, dessen Gewissen die Gerechtigkeit der Werke sucht!“ [14]

In Ost und West ist das Evangelium die erschreckende Verzauberung der Gesetzes- und Liebesfrömmigkeit, die Freiheit von der Religion der Liebe.

Anmerkungen
[1] Martin Luthers Werke. Tischreden, 5. Band, Weimar 1919, S. 210. In zeitgenössischer Übersetzung lautet der Text: „Zuvor mangelte mir nichts, denn daß ich keinen Unterscheid machete zwischen dem Gesetz und Eu-angelio, hielts Alles für eins und sagte, daß zwischen Christo und Mose kein Unterscheid wäre denn der Zeit und Vollkommenheit halben. Aber da ich den rechten Unterscheid fand, nemlich daß ein ander Ding das Gesetz wäre, ein anders das Euangelium, da riß ich hindurch“ (aa0).
[2] aa0 Tischreden, 6. Band, Weimar 1921, S. 134
[3] aaO S. 142
[4] Janov, Arthur: Anatomie der Neurose, Frankfurt 1976, S.24
[5] Vgl. unten Anm. 20
[6] Vgl. Weber, Edmund.: Freie Liebe und bhakti. Zur Konvergenz der Gottesliebe Martin Luthers und Shri Krishna Caitanyas. In: THEION – Jahrbuch für Religionskultur, Bd. II, Frankfurt am Main 1993, S. 155 ff.; ders.: Die Gegenwart des Heiligen im lilanukarana. Zur Theologie des Spiels in der Religion des Braj. In: aaO, S. 169 ff.
[7] Vgl. zur Lila: Hawley, John S./Shrivatsa Goswanii: At Play with Krishna. Princeton 1981, S.13ff.
[8] Die Lila ist (auf Englisch) wiedergegeben aa0, S. 115-154. Eine Brijbhasa Version ist nach Auskunft von Shrivatsa Goswami nicht veröffentlicht worden. Die Tonbandaufnahme der Aufführung hat J.S. Hawley er dem Verf. freundlicherweise zugänglich gemacht.
[9] aa0, S.120. Das Lied stammt von dem Brijbhasa Dichter Rakshan.
[10] Krishnas (Stief-) Vater.
[11] aa0
[12] aa0, S. 1 19f.
[13] Diesen Aspekt des aktiven Kampfes der Gopis gegen Krishnas Flötenspiels auf Grund ihrer Identifikation mit dem Dharma berücksichtigt auch Kinsley, David R.: The Sword and the Flute, Berkeley etc. 1975, S.9ff. nicht. Die einzelnen Krishna-Überlieferungen sollten zunächst als solche auf den ihnen eigenen Skopus hin un-tersucht werden, statt sie sofort mit der Gesamtüberlieferung zu vermengen. Für die mehr folkloristischen Stücke gilt dies ganz besonders, da in ihnen sich oftmals originale und aktuelle Religiosität äußert, die der herrschenden Orthodoxie nicht entspricht. Der Harmonismus in der Krishna-Religionskunde führt dazu, abweichende Ideen durch Umdeutung oder Ignorierung zu neutralisieren.
[14] Oberman, Heiko: Luther. Mensch zwischen Gott und Teufel, Berlin 1987, S.336
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*Verbesserte Fassung meines Artikels ‚Der Diebstahl der Flöte‘, in: Indien in Deutschland. Darmstädter Beiträge zum Diskurs über indische Religion, Kultur und Gesellschaft. Hrsg. von Edmund Weber in Zusammenarbeit mit Roger Töpelmann, Frankfurt am Main 1990.
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Link zum Artikel: relkultur22

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