Der Hinduismus im Schulunterricht
Ein trauriges Kapitel deutscher Religionspädagogik
von Jürgen Redhardt
wie sie vor und um 1800 über Indien und das, was wir heute unter „Hinduismus“ verstehen, in Deutschland bestanden hat. Heute müssen und können wir uns in die Lage versetzen, differenziertere Urteile, Auskünfte und gut begründete Einschätzungen über die Grundstruktur des sinnstiftenden Systems des Hinduismus abzugeben, dem sich immerhin zehn bis fünfzehn Prozent der Weltbevölkerung zuzurechnen pflegen.
Aber – so wird öfter nicht nur von einem wissenschaftlichen high-brow-Standpunkt aus warnend eingewandt – die gängige Begründung für das Motiv, warum man sich mit Welt- und Fremdreligionen jenseits der abrahamitischen Religionsgruppe (von Judentum, Christentum, Islam) befassen wolle, stehe meist auf tönernen Füßen. Es dürfe nicht lediglich in situativ-pragmatischer Art darauf verwiesen werden, daß ja die moderne Welt zu einem globalen Dorf zusammenschrumpfe und der weit nach Fernost ausgedehnte Massentourismus zwingend ein besseres Verständnis der Kulturen und Traditionen des indischen Subkontinents provoziere. Ein solches Unterfangen liefe auf eine „geschichtslos-punktuelle“ Gegenwartsbewältigung hinaus, versucht uns Udo Tworuschka klarzumachen, die von „operationaler Kurzsichtigkeit“ und „asthmatischem Aktualismus“ zeuge. Statt dessen plädieren er und manche anderen Religionswissenschaftler für ein „Begegnungsmodell“, das im Blick auf Fremdreligionen von der Erfahrung und den Handlungsmöglichkeiten des Schülers ausgehe. Oder aber man empfiehlt ein „Theoriemodell“, in dem thematische Segmente verschiedener Religionen – wie der Umgang mit der Frage der „Gesundheit“, des „Krieges“ oder der „Sexualität“ – einander gegenüber gestellt werden.
Man ersieht aus all diesen aspektreichen Erwägungen, daß in Ansätzen bereits das bedrängende religionsdidaktische Problem anvisiert wird, wie man sich zukünftig effizienter und fundierter mit dem Themenkreis „nichtchristliche Religionen im Unterricht“ befassen soll. Aber bevor damit begonnen werden kann, muß man sich exakt Rechenschaft darüber ablegen, was bislang denn die deutsche Religionspädagogik daran gehindert hat, sich auf diesem weiten aktuellen Feld stärker zu engagieren. Das läßt sich speziell am Beispiels des Hinduismus relativ einprägsam einsichtig machen (1).
A. Ursachen des didaktischen Dilemmas
1. Mangelnde disziplinübergreifende Zusammenarbeit von vergleichender Religionswissenschaft und Religionspädagogik.
Zu den mancherlei Theorien oder Modellen, die heutzutage vorgestellt werden, um das Thema „Fremdreligionen im Unterricht“ zu verwurzeln, gehört zusätzlich zu den bereits erwähnten Konzeptionen noch das sog. Relevanzmodell. Von ihm wird erwartet, daß es die Inhalte der Religionswissenschaft unter strikter Beachtung der Kriterien der Religionspädagogik zu einer – eben relevanten – handlungsorientierten Wissenschaft zu entwickeln vermag. Dafür existiere allerdings noch kein ausreichendes Netzwerk einer transnationalen, interreligiösen und -kulturellen Kooperation. Zu Recht wird zudem konstatiert, daß in Deutschland bislang noch immer, woran beispielsweise in Großbritannien schon seit einer Generation kein Mangel mehr bestehe, kein überzeugendes ausgereiftes Paradigma oder Modell aufzufinden sei, das konzeptuelle Anleitungen und Beispiele für eine altersgemäße Vermittlung nichtchristlicher Religionen anzubieten in der Lage sei (2).
Wie leicht zu eruieren ist, liegt der Grund für dieses Defizit vor allem darin, daß nach deutscher wissenschaftlicher Tradition zwischen Religionspädagogik und Religionswissenschaft ein breiter Graben klafft. Darüber hinaus besitzt zwar die Theologie, so merkt S. Murken in der Einleitung seines Buches „Gandhi und die Kuh“ (Diagonal-Verlag 1988) an, „einen wesentlichen Einfluß auf Inhalt und Gestaltung des Religionsunterrichts“, während aber zugleich die vergleichende Religionswissenschaft „an der Gestaltung und Aufbereitung der Inhalte zu den nicht-christlichen Religionen“ so gut wie gar nicht beteiligt sei (3).
2. Die böse, erst partiell überwundene kolonialistische Erblast eurozentrischer Arroganz gegenüber nichtchristlichen Kulturen und Religionen
An der Wiege des Christentums steht der Missionsauftrag (Mt. 28, 18 ff.). Schon bald hat die christliche Dogmatik die weltweite Verkündigungsarbeit nicht nur als ein entscheidendes Wesensmerkmal des Christseins und der Kirche festgeschrieben, sondern Recht und Pflicht zur Weltmission mit der sog. Absolutheit des Christentums begründet. Danach verhält sich der christliche Glaube zu allen anderen Religionen wie die „peremptorische“, d.h. unwiderruflich definitive Antwort der christlichen Offenbarung auf jedes nur mögliche und vorstellbare religiöse Denken, Fühlen und Hoffen. Es könne demnach keine religiöse Fort und Weiterentwicklung geben, die über das Christentum hinausgehe. Nur allzu rasch geriet unter Ausformulierung derartiger Argumentationszusammenhänge in der Geschichte der Kirche die grundierende Glaubenswahrheit in Vergessenheit, daß sich die christliche Religion in Verkündigung und Mission nie um sich selber zu drehen hat. Mission muß vielmehr als missionarisches Handeln Gottes erkannt werden, zu dem letztlich alle Religionen, also auch das Christentum, lediglich unterwegs sind. Als besonders schwierig und problematisch stellen sich auf diesem Hintergrund ebenso Verlauf wie Ziel der christlichen Missionsarbeit während der letzten Jahrhunderte dar. Kolonialismus und Mission, deren widersprüchliche, oft aber auch ergänzende Rollenverteilung durch das Miteinander von Kreuz und Schwert symbolisiert wurde, schickten sich an, die gesamte Welt den expandierenden abendländischen Staaten zu öffnen, häufig sogar botsmäßig zu machen. Trotz einiger unbestreitbarer Verdienste auf dem Bildungssektor blieb die christliche Mission deshalb ein integrierender Bestandteil der westlichen Zivilisation und deren imperialistischen Ambitionen. Damit einher ging eine Nichtachtung der jeweiligen kulturellen und religiösen Traditionen der kolonisierten Völker, auch und gerade auf dem indischen Subkontinent. Bis heute ist diese fatale Wirkungsgeschichte abendländischer Arroganz noch nicht völlig zu Ende gegangen.
3. Die Bestimmung von Aufgabe und Ziel des Religionsunterrichts ohne Ausblick und Bezugnahme auf andere Weltreligionen
Die religiöse Unterweisung in Kirche und Schule war hierzulande noch nie sonderlich darauf aus, die christliche Überlieferung als eine spezifisch religiöse Traditionsbildung neben vielen anderen nichtchristlichen religiösen Strömungen zu begreifen. Das mag aus mancherlei primär epochalhistorischen, vor allem apologetischen Gründen bis über die Aufklärungszeit hinaus verständlich und entschuldbar gewesen sein, erweist sich jedoch spätestens seit der Etablierung einer vergleichenden Religionswissenschaft als anachronistisches und unverzeihliches Relikt.
Wir unterscheiden zwischen verschiedenen Konzeptionen, die seit Anfang dieses Jahrhunderts Theorie und Praxis des (vor allem evangelischen, mutatis mutandis aber auch des katholischen) Religionsunterrichts determiniert haben – nach dem Prägestock der liberalen Theologie und des Kulturprotestantismus, der Dialektischen Theologie, der Ergebnisse der kritisch-historischen Bibelexegese oder des Problemverständnisses der Schüler. In keiner dieser mehr oder weniger distinkt voneinander abgrenzbaren, zeitlich aufeinander folgenden Phasen religionspädagogischer Theorie und Praxis wurde eine stärkere Berücksichtigung der Weltreligionen im Religionsunterricht gefordert. Geschah es ausnahmsweise doch, dann wurde von der unhinterfragten Selbstverständlichkeit ausgegangen, daß bei keiner anderen Religion ein derart grundstürzendes Ereignis am Anfang stehe, das mit dem Entbindungsereignis wahrer Menschlichkeit in und durch Jesus Christus auch nur entfernt verglichen werden könne. Erst in den letzten zwanzig Jahren überwand man nach und nach die einseitige Festlegung des Religionsunterrichts auf die Kenntnis der biblischen Quellen, die Entwicklung der Glaubenslehre, das „Bratenwenden“ theologischer Probleme und die verpflichtendenen Impulse der Christentumsgeschichte.
4. Die lediglich indirekte und partielle Wahrnehmung des Hinduismus als Mutterboden einiger neuer religiöser Bewegungen im westlichen Christentum
Während eine direkte religionsdidaktisch durchstrukturierte Behandlung der indischen Religionen nur hier und da angestrebt wurde, geriet aus akutem Anlaß der Hinduismus unerwarteterweise ins Fadenkreuz theologischen und pädagogischen Interesses. Ab ungefähr Anfang der siebziger Jahre breiteten sich nämlich in Westeuropa und Nordamerika mehr und mehr sog. Jugendreligionen, -sekten oder „destructive cults“ aus. Unter diesen recht unglücklichen Sammeltopfbegriffen ordnete man vorzugsweise auch solche religiösen Gruppierungen ein, die als Abkömmlinge hinduistischer Glaubensrichtungen firmierten (z.B. die Transzendentale Meditation, Ananda Marga, die Divine Light Mission, die Bewegung des Bhagwan Rajneesh oder die Internationale Gesellschaft für Krishna-Bewußtsein). Sie gerieten sofort in die Schußlinie kirchlicher „Sekten-“ oder „Weltanschauungsbeauftragten“, die ziemlich pauschal nachzuweisen versuchten, wie die in dem vom Hinduismus geprägten Weltanschauungsgemeinschaften oder religiösen Gruppierungen „praktizierte Auffassung von Wahrheit, Eigentum, Recht und Würde der Person“ in flagrantem Widerspruch stehe „zu abendländisch-humanistischen Werten“ (4).
Selbstredend betrieb man nie eine offen diffamierende Polemik gegen den Hinduismus per se. Aber indem man gegen die hinduistischen Sondergemeinschaften auf westlichem Boden zu Felde zog, gegen die da üblichen Selbsterfahrungs-, Bewußtseinserweiterungs- oder Konzentrationsübungen, gegen den angeblichen Guruismus -„kein Guru ohne Giro“- und Autoritarismus o.ä., inkriminierte man zumindest indirekt die religionshistorisch teilweise nachweisbaren inhaltlichen Parallelen mit kennzeichnenden Ritualen bzw. Einstellungs- und Denken indischer Religionen (5).
B. Negative Auswirkungen auf die religionsdidaktische Erschließung des Hinduismus-Themas
Wegen welcher didaktischen Klippen ganz konkret eine angemessene Auseinandersetzung mit dem Hinduismus in unseren Religionsbüchern nicht reüssierte, läßt sich an Hand von vier Einzelthemen aufzeigen.
1. Die irreführende Übertragung christlich-abendländischer Begriffe und Parameter auf die hinduistische Göttervielfalt
a. Kaum ein Religionsbuch wagt sich an den Hinduismus heran, ohne nicht an prominenter Stelle zu unterstreichen, wie stark dort der Polytheismus das bunte Bild des religiösen Alltagslebens präge. In den fünfziger Jahren erfolgte eine solche Informationsvermittlung unter der plump schematisierenden Gegenüberstellung: Dort eine Unzahl von Göttergestalten, hier (bei uns) nur der eine, wahre und trinitarische Gott (6).
b. Später gab man diesen agitatorischen Unterton preis. Der Hinduismus, so erklärte man dann, ist eben prinzipiell allzu tolerant, um – trotz der eindeutig monotheistischen Strömungen im Vishnuismus und Shivaismus – den Polytheismus definitiv aufzuheben. Deshalb gesteht er den Gläubigen über die einzelnen Kulte eine beliebige Vielfalt der Wahl in ihrem Glauben an eine letzte sinngebende Instanz oder Daseinsdeutung zu (7).
Daß es einen Vertrauens- und Glaubensmodus gegenüber dem Numinosen (dem gleichzeitig anziehenden wie abstoßenden „Heiligen“), dem „alles Übergreifenden“ (sensu Karl Jaspers) oder einem anders benannten Ultimate Concern geben könne, der die originäre abendländische Gegenüberstellung von Eingott- und Vielgötter-Verehrung als irrelevant empfindet und nur für kontextuell gültig bezüglich eines bestimmten religiösen Einstellungsaspekts innerhalb – oder auch außerhalb – des Hinduismus hält, wird nicht begriffen oder nicht akzeptiert. Zumindest ein paar Lehrbücher für die gymnasiale Oberstufe, so stellt man resigniert fest, hätten doch den hilfreichen „Inklusivismus“-Begriff instrumentell adaptieren können, um die tiefe Kluft zwischen Europa und Indien bezüglich des Verständnisses von Gott, Gottheit und Göttern einigermaßen didaktisch aufzuschlüsseln!(8)
2. Die Überbewertung der Rinderverehrung
Bei der unterrichtlichen Behandlung des Hinduismus wird der kultischen Verehrung der Kuh – nur selten auch der des Affen oder Büffels – eine überproportionale Beachtung geschenkt, mitunter sogar noch der Frage nach den „Krankenhäusern für Rinder“ (9). Via Fernsehen sind die Schüler darüber gewöhnlich schon mit einem hinlänglichen Instantwissen ausgerüstet. Oft muß die hierzulande gebräuchliche Metapher von der „Heiligen Kuh“ als Interesse heischender Aufhänger herhalten. „Heilige Kuh“ soll je nach „westlichem“ Verständnis bedeuten: Da liegt eine Marotte, eine fixe Idee oder ein Tabu vor, das es nicht verdient, außerordentlich eingeschätzt zu werden, was aber de facto doch geschieht.
Daß die Kuh als Symbol der Mutterschaft, der Mutter Erde, des Lichts, der Ehrfurcht vor dem Leben rangiert, tritt als der am meisten augenfällige und unverständlich anmutende Bestandteil des Hinduglaubens hervor. Doch wird fast immer eingeräumt, daß damit der Liebe zu aller Kreatur ebenso nachhaltig Ausdruck verliehen werde wie der Treue zu einem Stück uralten Traditionbestands. Nach und nach fahndet man in Religionsbüchern auch nach Pro- und Contra-Argumenten, ob der von Rindern angerichtete Schaden die indische Volkswirtschaft ruiniere oder – umgekehrt – ob wegen ihres hohen energetischen Wirkungsgrades die Kuh als Zugkraft, Lieferant von Brennmaterial und biologischer Müllbeseitigung eine keineswegs unrentable ökonomische Funktion erfülle (10). Aber alles in allem: Es wird mit dem Thema „heilige Kuh“ zu aufwendig und intensiv ein tatsächlich nur marginaler Aspekt indischer Frömmigkeit fokussiert.
3. Fehlinterpretationen des Karmakonzepts und des Kastensystems
a.- Wie gründlich und von Grund auf die Karmaidee hierzulande unter dem gegenwärtig grassierenden Reinkarnationismus, einer Art frei flottierender nordamerikanisch-westeuropäischer Untergrundreligiosität, abgefälscht wird, braucht wohl kaum en detail nachgeweisen zu werden (11). Es sei in diesem Zusammenhang nur kurz wiederholt:
Während für hinduistisches Verständnis die Karma-Vorstellung insofern mit dem Wiedergeburtsglauben verknüpft ist, weil menschliches Handeln immer in einem Kreislauf von Ursache und Wirkung eingeschlossen ist, sieht der modische westliche Reinkarnationismus primär „in der Wiederverkörperung das Mittel zum evolutionären Aufstieg der Menschheit und zur Selbstvervollkommnung“ (12). Auf diese inhaltliche Klarstellung nehmen unsere Religionslehrbücher leider nur vereinzelt Bezug. Das dadurch sich ergebende religionsdidaktische Problem verschärft sich noch. Denn bei der zunehmenden säkularen, pleonektischen Grundhaltung ist für zahlreiche Menschen aus dem sog. christlichen Abendland ein einziges Leben noch viel zu wenig, und sie verlangen deshalb vehement nach dem da capo eines – möglichst noch luxuriösen und unbeschwerteren – Lebendigwerdens. Mit einer solchen Mentalität, an der ja unsere Schüler von früh auf partizipieren, ist allerdings das Karmakonzept kaum in Beziehung zu bringen und didaktisch nur unter Mühen zu erschließen. Die Religionsbücher halten sich deshalb an diesem Problempunkt auch außerordentlich zurück.
b.- Das indische Kastensystem im Unterricht nicht zu diskutieren, sondern mit dem Eingeständnis abzutun, daß es für uns „unverständlich“ sei, ist eine allzu wohlfeile Auskunft (13). Zu inkriminieren ist aber gleichermaßen, wenn diese uralte Einteilung der hinduistischen Gesellschaft in beruflich definierte und die Berufsmöglichkeiten definierende Stände stante pede unter das ideologische Seziermesser unserer derzeit tonangebenden Sozialethik gerät. Daß durch dieses Kastensystem nach unserer Auffassung „eine menschliche Ungleichheit von unvorstellbarem Ausmaß begründet“ werde, die kein Entrinnen zuläßt, trifft zwar einen wesentlichen Kern des Problems, verdeckt aber die Notwendigkeit, daß gerade deshalb dieses religiös fundierte Gesellschaftsmodell der Ungleichheit von seiner Wurzel und von seiner Einbettung in ein geschlossenes Glaubenssystem her zu interpretieren ist. Wie sehr das Kastensystem zudem auch die Aufgaben des hierzulande immer wieder zitierten „sozialen Netzes“ erfüllt, müßte insgesamt nachdrücklicher unterstrichen und veranschaulicht werden (14).
4. Die übertriebene Identifizierung des modernen Hinduismus mit der Person und dem Werk Mahatma Gandhis
Zweifellos ist es berechtigt und angemessen, mit der Profilierung Gandhis den gegenwärtig in Westeuropa und Nordamerika bekanntesten indischen Repräsentanten vorzustellen. Aber es geschieht durchweg in einseitiger, zuweilen sogar verzerrter Weise; denn Gandhi verkörpert keineswegs derart einzigartig und ausschließlich allein die zeitgenössische indische Kultur und deren Erneuerung. Seine überragende Bedeutung, die er sich in erster Linie durch seinen zähen Kampf für die Verwirklichung der Prinzipien von Gewaltlosigkeit, vom Festhalten an der Welt und an der Brahmacarya erweist, wird in den Schulbüchern allzu verallgemeinert und simplifiziert. Darüber hinaus wird der Eindruck vermittelt, daß es ihm vorrangig um die rehabilitierende Umbenennung der niedersten Kaste in die „Kinder Gottes“ gegangen sei oder auch um die Verehrung der Kuh als ein „Gedicht den Mitleids“. Allzu pointiert wird auch Gandhis Nähe zum christlichen Glauben, speziell zur Botschaft der Bergpredigt, während er in seiner Ethik doch zutiefst auf die Zentralbegriffe von Dharma, Karma oder Moksha bezogen blieb (15). Das geschah nicht zuletzt – ein ebenfalls nur selten herausgestelltes Motiv – auch deshalb, um deren unaufgebbare Bedeutung für das ideologische Fundament eines einheitlichen, unabhängigen indischen Nationalstaats aufzuzeigen.
5. Die voreilige unqualifizerte Ablehnung des Yoga
In den meisten, das Thema „Hinduismus“ traktierenden Religionsbüchern, wird der Yoga an hervorragender Stelle erwähnt und relativ korrekt – wenn auch gelegentlich sprachlich wenig elegant – als indische Lehre und Praxis der systematisch geübten geistigen Anspannung abgehandelt, die durch Versenkung und Askese zur Erlösung und zur Vereinigung mit dem „Übersinnlichen“, dem „Wesensgrund“ oder Gott führen solle. Leider wird kaum genauer auf die Wurzeln des Yoga eingegangen, nicht darauf, wie er sich weit über eine bloße, durch Fasten und Askese herbeigeführte Vermeidungshaltung erhebt. Viel zu rasch und unvermittelt wechselt man statt dessen zur polemischen Ablehnung über. Und dann lautet der Tenor der abwiegelnd-kritischen Einschätzung ungefähr so: Durch Yoga kommt es häufig zur Gehirnwäsche, zur Wesensveränderung und zur Flucht aus der Realität (16). Die realen Weltprobleme wie Gerechtigkeit unter den Menschen, Schutz der Natur, Wahrung des Friedens und wirtschaftliche Entwicklung werden nur im Licht des vermeintlichen Hauptproblems erfaßt, nämlich wie man dieser „Welt“ schon während des Lebens entkommen könne. Das aber laufe auf eine bloße „Selbstbespiegelung“ hinaus und sei unserem christlich-abendländischen Verständnis von Weltverantwortung total entgegengesetzt. Eher positiv zu bewerten ist die gelegentlich kritisch urteilende Stellungnahme, daß der bei uns in Mode gekommene Yoga-Kult oder das auf Yoga-Praktiken aufbauende „autogene Training“ (nach H. J. Schultz) mit dem genuinen Yoga insofern nur noch wenig gemein hebe, da es ja nicht mehr um eine religiöse Übung, auch nicht mehr um eine „Konzentration auf das Eigentliche und Innerliche“ gehe, sondern lediglich um therapeutische Entspannung.
C. Epikrise
Es finden sich, wie bereits angedeutet, in den Religionsbüchern – wozu neuerdings sich auch eine Anzahl „Ethik“-Bücher für den schulischen Unterricht gesellen – durchaus schon verheißungsvolle Ansätze, sich in puncto Hinduismus und dessen didaktischer Aufbereitung ganz neu zu orientieren und allzu lange mitgeschleppte Mißdeutungen, irreführende Verkürzungen und schablonisierte Fehlverständnisse aufzugeben (17). Dieser begrüßenswerte Prozeß, der sicher zukünftig von Rückschlägen und Enttäuschungen nicht frei sein wird, hängt primär mit der stärkeren Bezugnahme auf religionswissenschaftliche Erkenntnisse zusammen. Man beginnt, den Hinduismus als uraltes religiöses System bekanntzumachen, das tatsächlich wie kaum ein anderes den kultischen und spirituellen Pluralismus bejaht, ihn nicht nur als Gegebenheit hinnimmt und toleriert, sondern religiöse Vielheit darüber hinaus als beglückenden Reichtum erfährt. Zudem wird dabei das Modell eines Miteinanders von Religionen entworfen, in dem die Koexistenz von grundverschiedenen Elementen, zuweilen auch der Dissens von Gegensätzlichem, ermöglicht wird. Und ein trauriges Kapitel westdeutscher Religionspädagogik könnte damit überwunden sein.
Anmerkungen
(1) Den Hinduismus in einem Unterrichtswerk für die Sekundarstufe I ganz wegzulassen, aber dem Buddhismus acht Seiten zu widmen, ist didaktisch kaum vertretbar (cf. „Entdeckungen machen“ (hrsg. v. J. Kluge), Cornelsen-Schwann 1988).
(2) cf. Hinnelis / Sharpe, World Religions in Education Hinduism, Oriel Press 1972.
(3) a.a.O., S. 9.
(4) „Neue Jugendreligionen“ (hrsg. v. Müller-Küppers / Specht ), Verlag für medizinische Psychologie, 2. Aufl. 1979, S. 22. Man könne sich des Eindrucks nicht verwehren, wird da u.a. und in polemischem Schnellschußverfahren ausgeführt, mit der Krishna-Bewegung „eine als ‚Religionsgemeinschaft‘ getarnte Buch- und Schallplattenfirma vor sich zu haben, mit etlichen ‚wissenden‘ Managern und einigen verführten, aber inzwischen zu marionettenhaften Werkzeugen geformten Mitgliedern“ (ibidem).
(5) S. Murken kreidet es als einen gravierende Fehler an, wenn beim schulischen Thema „Hinduismus“ von modernen religiösen Bewegungen als didaktischem Aufhänger ausgegangen wird. Denn es ist für Schüler unmöglich, „auf dem Hintergrund der Warnungen und Drohungen, die sie bezüglich der ‚Jugendreligionen‘ erhaltet haben, den Hinduismus noch unvoreingenommen zu betrachten“ (a.a.O. S. 106).
(6) Die 330 Millionen Hindu-Götter, von denen die Puranas sprechen, wabern in beziehungslos aufdringlicher Weise sowohl durch die z. Zt. der „Hochkommissare“ der Evangelischen Unterweisung verfaßten Lehr- und Lernbücher als auch noch durch das katholische „Zeichen der Hoffnung“ (für die Jahrgangsstufe 9/10) Patmos 1978, und das evangelische Pendant „Anpassung oder Wagnis“, 4. Auflage, Diesterweg 1978. – Wie die astronomische Zahl 330 000 000 auf einen bestimmten, uns hierzulande natürlich fremd anmutenden Typ von Religion, Gottesverständnis und -verehrung bezogen werden muß, bleibt meist unaufgehellt. (Das gilt allerdings nicht – als eine der rühmlichen Ausnahmen – für das von Faßnacht/Bickelhaupt besorgte sog. Hinduismus-Heft für den Schulgebrauch. Diesterweg/Kösel 1979)
(7) D. Steinwede, ein Meister der Erzählkunst, verbreitet für das 5./6. Schuljahr folgende, inhaltlich auf ein kindliches bzw. pueriles Verstehen heruntertransformierte Version: „Sie haben viele Götter, ein ganzes Wunderland voll. Und doch sagen sie: Es gibt ein höchstes Wesen, einen Gott. Er ist überall. Er ist der Mann. Er ist die Frau. Er ist die Biene und der Blitz, alles ist aus ihm hervorgegangen.“ Aus: Orientierung Religion, Diesterweg 1986, S. 136.
(8) „Inklusivismus. Eine indische Denkform“, hrsg. v. G. Oberhammer, Sammlung De Nobili 1983 – cf. auch H.-J. Greschat, Von Gottesvorstellungen und deren (Un-)Vergleichbarkeit, in: Zeitschrift für Mission, 1984, S. 160 ff.
(9) cf. Br. Hülsewiede, Indiens heilige Kühe in religiöser, ökologischer und entwicklungspolitischer Perspektive. Ethnologische Studien der Universität Münster, Bd. 2 (1987).
(10) „Zeitzeichen“. Religion ab 7. Schuljahr, hrsg. v. Jentsch/Munzel, Schroedel 1982, S. 238.
(11) Schon R. Hummel hat über dieses akute Problem alles Wesentliche vor knapp zehn Jahren zusammengefaßt und mit der Überschrift versehen: „Machtvolle Gegenwart des Vergangenen“ (in: Evgl. Kommentare, 12/86. S. 697 ff.). Cf. auch J. Redhardt, Die Verabschiedung des christlichen Auferstehungsglaubens“. In: Krisen und Umbrüche in der Geschichte des Christentums, hrsg. v. W. Kurz et alii, Fachbereich Evgl. u. Katholische Theologie Gießen 1994, S. 383 ff.
(12) R. Hummel, a.a.O., S. 699.
(13) „Arbeitsbuch Religion 9/10“ für die evgl. Religionslehre im 10. Schuljahr, hrsg. v. I. Baldermann et alii, Paderborn 1986.
(14) Im bereits erwähnten „Zeitzeichen“ wird bereits sehr konkret auf diesen Gesichtspunkt eingegangen.
(15) Das katholische „Forum Religion 3“ für die Sekundarstufe II. hrsg. v. W. Trutwin, Patmos 1983, bringt mit seiner Beschränkung auf einen 27 Zeilen langen Originaltext (auf S.131) den am meisten legitimen Beitrag zur Erhellung des Jesus-Verständnisses Gandhis.
(16) cf. dazu u.a. das von W. Trutwin et alii herausgegebene Unterrichtswerk „Zeichen der Hoffnung“, Patmos 1992, S. 199.
(17) Empfehlenswert ist besonders das von Uwe Gerber, Mokrosch und Heinz Schmidt herausgegebene Buch „Ethik. Ein Arbeitsbuch für den Ethikunterricht im 11. Schuljahr“, Diesterweg und Kösel 1990.
Link zum Artikel: relkultur07