Die Bedeutung der Theologie Martin Luthers für die Begründung einer multireligiösen Gesellschaft
Nr. 01 (1997)
von Edmund Weber
Zugleich wird versucht, ihre jeweilige historische Bedeutsamkeit zu ermitteln. Aus dieser Differentialanalyse soll dann die gestellte Frage eine mögliche Antwort finden. Zunächst jedoch werden die realen religionspolitischen Optionen Luthers behandelt. Dazu werden seine Stellungnahmen zu Muslimen und Juden unter Berücksichtigung der Katholiken ausgewählt und auf ihre höchst unterschiedliche Bewertung der drei Religionen hin befragt.
- Martin Luthers religionspolitische Optionen
Martin Luther und die Muslime
Für Luther waren Tartaren und Türken flagella et virga Dei.[1] Die Türken, und damit meint er stets nur die Muslime dieses Volkes, sind also eine heilsgeschichtliche Größe: sie sind Werkzeuge des Zornes Gottes wider die unchristlichen Christen. Das türkische Reich wird, so ist Luther überzeugt, das christlich-römische Kaisertum, das fast dahin ist, alsbald ablösen und damit dann die Zukunft Christi einläuten. Die Türken sind somit Bestandteil der Heilsökonomie Gottes: er schickt über die Christenheit die türkische Zuchtrute und Plage, um durch sie seine Christen zu retten.[2] Eine Christenverfolgung durch die Türken hätte folglich eine positive Wirkung: Christus gebrauchte dann der Türken „wuetens dazu, das sie yhm (wie wol unwissend) den hymel voll Merterer und heiligen machen, da mit sein reich deste ehe vol werde.“[3]. Zum Verbesserungsmotiv heißt es: „Er (sc. der Türke; der Verf.) sey zornig und wuetig als er ymer will, mit allen teufeln dazu, so mus er knecht und diener sein der Christen. Und eben damit zu yhrem besten helffen, damit er sie meynet zu verderben.“[4] Ein christlicher Kreuzzug kommt gegen die Türken von daher auf keinen Fall in Betracht: In seiner Schrift Vom Kriege wider die Türken (1529) hatte Luther bereits „geraten, Das man nicht solle widder den Türcken kriegen, als unter der Christen namen noch mit streit angreiffen, als einen feind der Christen.“[5] Christen als Christen müssen mit Christus Gewalt hinnehmen, denn „Christus will schwach sein und leiden auff erden mit den seinen.“[6] Zulässig ist nur ein weltlicher Verteidigungskrieg der weltlichen Oberkeit, um alle ihre Untertanen, seien sie nun Angehörige der christlichen, islamischen, jüdischen oder einer anderen Religion, zu beschützen. Dieser weltlichen Oberkeit hat auch der Christ im Kriegsfalle „mit leib und gut gehorsam zu sein.“[7] Ein solches Heer wider die weltlichen Feinde kann und darf aber nie und nimmer ein christliches, sondern nur ein rein weltliches sein. Luther verweist dazu auf die Armee des christlichen Legionärs St. Mauritius, welche „hies nicht ein Christenheer odder volck, noch ein Christenstreit, Sondern des keisers volck odder heer.“[8]
Kommt also ein christlicher Kreuzzug wider die Türken nicht in Frage, so bleiben die Muslime dennoch Knechte des Teufels wider Christus, d.h. Gegner des eigentlichen Evangeliums von der freien Gnade Gottes: „Sihe unter diesem heiligen schein der Türcken ligen verborgen, ia unverborgen, so viel ungehewrer schrecklicher grewel, nemlich, das sie Christus, nicht allein leugnen, sondern auch lestern und schenden, mit seym blut, sterben, aufferstehen und mit allem gut, das er der wellt gethan hat.“[9] Im Gegensatz zum Papst ist Mohammed jedoch nicht der Antichrist, stellt er doch durch seine klare religiöse Abgrenzung vom Evangelium keine Gefahr dar: „Und ich halte den Mahmet nicht für den Endechrist, Er machts zu grob und hat einen kendlichen schwartzen Teuffel, der weder Glauben noch vernunfft bekriegen kann.“[10]. Ganz anders der Papst; der sitzt im Tempel Gottes und betrügt die auserwählten Christen durch subtile Täuschung: „Aber der Babst bey uns ist der rechte Endechrist, der hat den hohen, subtilen, schönen, gleissenden Teuffel, Der sitzt inwendig in der Christenheit … Dieser teuffel betreugt … die auserweleten Gottes“,[11] sein Amt ist vom Teufel selbst gestiftet.[12] Das Amt des Sultans dagegen ist weltliche Oberkeit, von Gott eingesetzt. Diese differenzierte Islam-Betrachtung Luthers setzt sich fort, wenn er ausdrücklich erklärt, daß er – im Gegensatz zur herkömmlichen anti-islamischen Polemik – nicht Mohammeds Person, sondern nur seine Religionslehre kritisieren will: „Personalia, quae dicunt de Mahomet, me non movent, aber die lehre der Turcken mussen wir angreiffen. Dogma mus man ansehen. Wenn es schon mitt seiner person so were, wie man schreibet oder wie er saget se spiritu quodam afflari divino, doch frag ich nach den personalibus nichts; es ist vmb die ler zuthun.“[13]
Den zentralen Widerspruch zur islamischen Lehre sieht Luther in deren Leugnung der Gottessohnschaft Jesu Christi sowie von dessen Tod und Auferstehung als Heilsnotwendigkeiten. Wegen dieser Lehrdifferenzen nennt er denn auch den Islam „ein verstörer … unseres Herrn Christi und seines Reichs.“[14] Vergessen wir nicht: das Reich Christi ist für Luther nicht das weltliche christlich-römische Reich; dieses wird vom Türken nicht verstört, sondern im Auftrag Gottes zerstört werden. Das Reich Christi ist unsichtbar im Herzen, eine Sache des inwendigen Menschen und damit dem Zugriff jeglicher irdischen Gewalt entzogen.
Auf der anderen Seite sieht Luther koranisches Christentum, wenn die Muslime „multa concedunt in euangelio seu testamento: Christum natum esse ex Maria sine peccato, et virginem mansisse mundatam etc.“ [15]Diese Übereinstimmungen lassen Luther klar erkennen, daß trotz der unumgänglichen dogmatischen Auseinandersetzung mit den Muslimen, „es leichter mitt inen wirt zu streiten sein denn mitt den Juden.“[16] Diese Erkenntnis Luthers, daß Islam und Christentum neutestamentlich miteinander verwandt sind und deshalb der christlich-islamische Dialog, so muß das Streiten wohl verstanden werden, leichter zu bewerkstelligen ist, scheint sehr schnell vergessen worden zu sein: erst langsam bricht sie sich heute wieder Bahn.
Luthers Favorisierung des Islams erreicht ihren Höhepunkt, wenn er heftig die mangelnde Kenntnis über die Türken kritisiert, ein Versäumnis – so sagt er – der „grossen herrn“ und „hoch gelerten“[17], der Politiker und Wissenschaftler seiner Zeit. Durch die Sabotage der Türken- und Islamforschung können erfolgreich „lügen von den Türcken ertichtet“ werden, die nur den Zweck haben „uns Deüdschen widder sie zu reitzen.“[18] Luther verdammt hier klar die irrationale antitürkische Hetze in Deutschland und entlarvt sie als verlogene Kriegspropaganda.
Luthers scharfsichtige sozialpsychologische Analyse der Meinungsmanipulation zum Zwecke der Mobilisierung von kollektiver Aggression gegen andersreligiöse oder anderskulturelle Strömungen hat bis heute nichts von ihrem Erkenntniswert eingebüßt: z.B. bei der Hetze gegen die islamische und die Hindu Kultur oder die honorigen neuen religiösen Bewegungen. Es verdient festgehalten zu werden, daß Luther gerade die Muslime durch seine Kritik in Schutz nahm und sich den Zorn der antiislamischen Hetzer zuzuziehen bereit war; soviel waren die Muslime ihm wert. Bedenken wir, daß Luther gegenüber der jüdischen Religionsgemeinschaft nicht nur auf solche Kritik verzichtete, sondern im Gegenteil selbst exzessiv das tat, was er an der anti-muslimischen Propaganda verdammte. Diese relativ proislamische Einstellung Luthers kam u.a. aber auch daher, daß seiner Ansicht nach Muslime wegen ihrer neutestamentlichen Verwandtschaft vielleicht doch noch – ganz im Gegensatz zu den verstockten Juden – bekehrt werden könnten. Er glaubte, daß dies grundsätzlich möglich sei, „Wenn ein wasche (Bassa, Pascha) das euangelium ergrieff,“ denn dann „wurde man wol sehen, wie es dem Turcken solt ein loch reissen vnter sein volck.“[19]
Luthers Hochachtung vor dem Islam drückt sich auch dann noch aus, wenn er ihm kämpferisch gegenüber tritt. Zwar könne man das türkische Reich mit Gewalt nicht unterdrücken; wohl aber werde einmal ein „bonus vir“ aufstehen, „ipse oppugnabit dogma Mahometi“, der wird der Lehre Mohammeds zu Leibe rücken,[20] d.h. den Islam mit theologischen Waffen attackieren. Ein deutliches Zeichen dafür, wie hoch Martin Luther die geistige Überlegenheit des Islams einschätzte und wie unfähig er dagegen die christliche Theologie seiner Zeit hielt, mit dieser Religion in theologischen Wettstreit zu treten. Die mangelnde Kenntnis des Islams, die Luther eingesteht und als Funktion der Kriegspropaganda, als gezielte Desinformation, entlarvt, scheint nun aber auch der Grund dafür gewesen zu sein, daß er die islamische Ethik anprangert, daß sie Rauben und Morden „als ein gut Göttlich werck“ gebiete und den Ehestand mißachte: Frauen „werden gekaufft und verkaufft wie das viehe.“[21] Mit solchen Vorschriften und Praktiken zerstöre der Koran letztlich jedoch „veram Religionem, veram Politiam, veram oeconomiam.“ [22]Hier liefert Luther selbst nicht nur ein schönes Beispiel für die Folgen des von ihm angeprangerten informatorischen Defizits und der gezielten anti-islamischen Desinformation, sondern auch für die ihm typische konträre Betrachtungsweise ein und derselben Religion. Luthers intellektuelles Denken war also nicht monolithisch war, sondern bewegte sich im steten Fluß neuer Erfahrungen und verzweifelter Rückschlage.
Halten wir fest: Luther war kein blinder Anti-Muslim, sondern ein selbstkritischer Christ, der, wenn er neue Kenntnisse erhielt, seine Meinung entsprechend korrigieren konnte. Er war stets bereit, positive Seiten des Islams gelten zu lassen: so, wenn er sagt, daß bei den Türken viel „feiner tugent“[23] sei; ja, daß das moralische und religiöse Verhalten der muslimischen Geistlichkeit keinen anderen Schluß zulasse, als „das man sie möcht für Engel und nicht für Menschen ansehen.“[24] Und überhaupt, so predigt Luther seinem Christen, „wirstu sehen bey den Türcken nach dem eusserlichen wandel ein tapffer strenge und ehrbarlich wesen: Sie trincken nicht wein, sauffen und fressen nicht nicht so, wie wir thun, kleiden sich nicht so leichtfertiglich und fölich, bawen nicht so prechtig, brangen auch nicht so, schweren und fluchen nicht so, haben grossen trefflichen gehorsam, zucht und ehre gegen yhren Keiser und herrn, Und haben yhr regiment eusserlich gefasset und ym schwanck, wie wirs gern haben wollten ynn Deudschen landen.“[25] Die Vorbildlichkeit der tatsächlichen muslimischen Lebensweise, sowohl im Blick auf ihr tapferes, maßvolles und strenges Leben als auch für die Zucht und Stille bei ihren Gebetsversammlungen, stand für Luther außer Zweifel. Wenn er dann den Handlungen der Türken „einen grossen schein der heiligkeit“[26] unterstellt und die Muslime bezichtigt, daß sie infolgedessen „des teuffels heiligen sind“[27], fällt er damit kein negatives moralisches Urteil über die Muslime. Deren vorbildliche Weltethik und Gottesverehrung sind in seinen Augen nur deshalb unheilig und teuflisch, weil damit werkgerechte Absichten, d.h. der Un-Glaube an Christus, verknüpft ist. Luthers theologisches Urteil über die Muslime fällt also gerade deshalb so hart aus, weil er deren den Christen überlegene Moralität erkennt und anerkennt. Gäben aber die Muslime, so die Logik seiner Argumentation, ihre Werkgerechtigkeit auf und glaubten an die Gottesgerechtigkeit, wären sie zweifellos die besten Christen.
Martin Luther und die Papisten
Über die Papisten hat Martin Luther kein solch schmeichelhaftes Urteil gefällt. Es ist offenkundig, daß er die Muslime den Katholiken vorzieht. Wenn er aber Papst und Türke vergleicht, so bleibt’s dabei: der Papst ist schlimmer als der Türke. Der Türke zwingt niemanden, Christum zu verleugnen; deshalb füllt er den Himmel nur mit Heiligen (d.h. mit Glaubenden, nicht mit Märtyrern!). Der Papst aber füllt die Hölle mit Christen, weil er sie mit Gewalt verführt. Luthers religionsvergleichendes Resümee lautet denn auch ganz antikatholisch und ein wenig proislamisch: „Komen wir zum Türcken, so fahren wir zum teuffel, Bleiben wir unter dem Bapst, so fallen wir ynn die helle, Eitel teuffel auff beiden seiten und allenthalben.“[28]
Luthers positivere Bewertung der weltlichen Verhaltensweisen, und damit auch der Regierungskunst der Muslime ist außerordentlich bemerkenswert. Trotz der äußersten Bedrohung der deutschen Christenheit durch den Sultan stufte er öffentlich diesen weltlichen und religiösen Feind sowohl in Sachen weltlicher Ordnung als auch religiöser Begeisterung höher ein als die katholischen Verbündeten. Vergessen wir nicht, daß zu diesen unter die Muslime eingestuften Verbündeten auch der von Luther stets als weltliche Oberkeit anerkannte Kaiser zählte!
Trotz aller Abgrenzung stand der Islam dem Reformator näher als das Papsttum. Im Papsttum, und da hat Luther keinen Schritt zurück getan, hat sich der „Endechrist“[29], d.h. Antichrist heuchlerisch und heimlich auf den Thron in Gottes Tempel geschlichen und verführt als angeblicher Engel des Lichts die Seelen der Christen. Der Türke dagegen spielt ehrlich mit offenen Karten, offen mit Gewalt und Schwert als „leibhafftiger Teuffel“[30], klar erkennbar, im Dienste Gottes zur Strafe der Christenheit! Das Papsttum dagegen dient nicht zur Strafe, sondern führt die Seelen in den unumkehrbaren Untergang. Da nun für Martin Luther das Papsttum vom Teufel gestiftet ist, ist es ärger als der Islam und auch das Judentum. Er verurteilt die katholische Religion nach den Kriterien der katholischen Lehre von den Ungläubigen: die schlimmsten Ungläubigen sind die Ketzer, weil sie unter dem Deckmantel des Christentums teuflische Lügen verbreiten und damit die gutgläubigen Christen durch Betrug ins ewige Unheil stürzen. Die Papisten liefern die Christen der Hölle aus. Sie tun dies, indem sie behaupten, Christus zu predigen, lehren aber in Wahrheit den Antichrist: die Werkgerechtigkeit. Der Türke lehrt offen die Werkgerechtigkeit, so daß er die Seele und das Gewissen der Christen nicht bedroht.
Martin Luther und die Juden
Daß Luther ein aggressiver Feind der in Deutschland zu seiner Zeit praktizierten jüdischer Religion war, leidet keinen Zweifel. In seinem 1543 erschienenen Buch[31] hat er ein Programm der Reghettoisierung, ja der Vertreibung der jüdischen Religionsgemeinschaft in Deutschland formuliert. Die historische Quittung für diese Schreibtischtat hat Luther erhalten; sie konnte schlimmer nicht ausfallen: der Nazischreibtischtäter Julius Streicher, Herausgeber des Stürmers, berief sich vor dem Nürnberger Kriegsverbrechertribunal zur eigenen Rechtfertigung auf diese Schrift.[32] Larsson schreibt in seinem Büchlein über die gefälschten Protokolle der Weisen von Sion dazu: „Dieses boshafte Buch (sc. Martin Luthers letztes Buch Von den Juden und ihren Lügen) beinhaltet praktisch das ganze antisemitische Programm der Nazis außer dem Völkermord.“[33] Larsson weist aber dann darauf hin, daß sich in den Judengesetzen der Nazis nichts befunden habe, das nicht schon in früheren christlichen Bestimmungen – mit Ausnahme des Mords – sein Vorbild gehabt hätte.[34] Larsson nennt gleichsam nebenbei jedoch den fundamentalen Unterschied zwischen der nazistischen und der christlichen Judenfeindschaft: den Mord oder Völkermord. Heiko Oberman hat auf diesen wesentlichen Unterschied hingewiesen und zu Bedenken gegeben, daß es die Nazipropaganda war, die sich – wie Julius Streicher – für ihren Völkermord an den Juden auf Martin Luther berief.[35]
Wer aber die Naziverbrechen an den Juden mit Luthers bzw. christlicher Judenfeindschaft erklärt, verharmlost wie Streicher nicht nur das nazistische Morden, sondern unterschlägt das radikal Menschenfeindliche des Nazismus, das, was sie zu Feinden des Menschengeschlechts macht: die Nazis haben die Juden nicht etwa wegen vermeintlicher Untaten bestraft oder wegen körperlicher und geistiger Krankheit beseitigt, sondern wegen ihrer angeblichen bösen Natur ausgerottet. Nicht Gedanken, Handlungen oder Gefühle verwirkten in den Augen der Nazis das jüdische Existenzrecht, sondern die jüdische Natur selbst; oder anders gesagt: der Jude galt als Krebsgeschwür eines lebendigen Körpers, der Jude war kein Mensch, sondern der Gegen-Mensch. Der nazistische Rassismus erklärte nicht das Verhalten des Juden als rechtswidrig, sondern sein Wesen als naturwidrig. Deshalb wurden logischerweise auch jüdische Säuglinge und Kleinkinder vernichtet. Ein solches Denken ist Luther und – wie ich glaube – der gemeinen christlichen Tradition fremd: sie geht stets von Verantwortlichkeit des Menschen aus; und das, was wir Erbsünde nennen, gilt in dieser Tradition als überwunden und war allemal für Luther nur eine Sache zwischen Gott und Mensch. Luther war kein Antisemit, weil er kein Rassist war.[36] Er hat wie kein zweiter christlicher Theologe die Religion der hebräischen Bibel in der Welt verbreitet, seine Ethik ist gespeist aus der hebräischen Hl. Schrift, und der Gott des Alten Testaments ist ihm der Vater Jesu Christi. Die jüdischen Propheten haben den Heiland angekündigt. Jesus war ihm ein geborener Jude, und daß die Deutschen Christen werden konnten, verdanken sie allein den jüdischen Aposteln, die die Lehre und Taten des Juden Jesus den Heiden zugänglich gemacht haben. Ja, er kann in seiner Schrift Daß Jesus ein geborner Jude sei, 1523, sagen: „Wenn die Apostel, die auch Juden waren, also hetten mit uns heyden gehandelt, wie wyr mit den Juden, es were nie keyn Christen unter den heyden worden.“[37]
Luther war ein Gegner der Gesetzesreligion: deshalb kämpfte er gegen alle Religionen, die dieses Gesetz nach seiner Ansicht als Heilsmittel verehrten und verwendeten: gegen Papisten, Schwärmer, Muslime und religiöse Juden. Luthers Kritik richtet sich nicht gegen geborene Juden; dann hätte er Jesus und die Apostel verwerfen müssen. Er wandte sich gegen die Menschen, die sich auf das, wie er meinte, unevangelisch interpretierte Gesetz und dessen Auslegung im Talmud stützten. Wie wenig Luther ein deutschtümelnder Rassist war, kann man auch daran sehen, wie er mit seinen Deutschen umgegangen ist. Er hat seine Deutschen geliebt, aber wohl wie kein zweiter wegen ihrer Unmoral und Unfähigkeit, ihrer Unchristlichkeit und Zügellosigkeit angeprangert; er nahm von seiner ätzenden Kritik niemanden aus: weder die Fürsten, noch den Gelehrtenstand oder den Bürger und den Bauersmann. Manchmal könnte man meinen, daß für Luther die Deutschen nur ein Haufen von Tyrannen, Raubrittern, Aufrührern, Trunkenbolden, Hurern, Halunken und Lumpen gewesen seien, denen Herr zu werden, Gott sich in seiner Not des grausamen Türken bedienen mußte.
Aber der Vorwurf der Werkgerechtigkeit war nur eine Wurzel seiner Feindschaft gegen die damalige jüdische Religionsgemeinschaft. Die andere Wurzel war gleichsam missionarischer Natur: Der Anlaß der Schrift Luthers Von den Juden und ihren Lügen macht dies überdeutlich: Luther will seine Leute vor den religiösen Juden seiner Zeit warnen, weil sie die Christen anlockten. Eigentlich hatte er gar nicht mehr über die Juden schreiben wollen, sagt Luther am Anfang seiner Schrift. Aber dann hätten ihn schockierende Nachrichten erreicht, die ihn dazu antrieben, eine anti-jüdische Hetzschrift zu verfassen: „Aber weil ich erfaren, das die Elenden, heillosen leute nicht auffhören, auch uns, die Christen, an sich zu locken, Hab ich dis Büchlein lassen ausgehen, Damit ich unter denen erfunden werde, die solchem gifftigen furnemen der Jüden widerstand gethan und die Christen gewarnet haben, sich fur den Jüden zu hüten.“[38] Während also in seinen Augen die Papisten die Christen verführten und zu seiner Zeit nur durch äußere Gewalt ihre Religion sichern konnten, mußte er nun feststellen, daß die religiösen Juden größte Attraktivität bei seinen christlichen Zeitgenossen besaßen; offenbar in einem Maße, daß er mit aller Federschärfe meinte gegen sie schreiben zu müssen, wollte er nicht riskieren, daß seine evangelischen Christen scharenweise sich zur jüdischen Religionskultur hinwandten und damit erneut – wie er meinte – der Werkgerechtigkeitsreligion verfielen.
Diese Attraktivität der jüdischen Religion in Luthers Zeit und Umgebung ist der wahre Grund dieser Schrift. Vergessen wir nicht, daß Josel von Rosheim (1487-1554), der führende jüdische Theologe z.Z. der Reformation, über einen ssolchen politischen Einfluß verfügte, daß den Rat der Stadt Straßburg dazu bewegen konnte, über Luthers anti-jüdische Schriften ein Druckverbot zu verhängen.[39] Luther redete nicht von unbekannten und unbedeuteten Leuten. Und die jüdischen Schulen und Gelehrten fand man überall in Deutschland – nicht sektiererisch abgeschottet, sondern mit Wort und Schrift erfolgreich in der interreligiösen Auseinandersetzung tätig. Die Reformation hat ganz offenkundig mitgeholfen, das Judentum neu und positiv zu entdecken; und als Christen anfingen, diese Religion auch für ihr eigenes Leben zu entdecken, da sah sich Luther in seinen Erwartungen gegenüber dem Judentum nicht nur getäuscht, sondern mehr noch, er sah seine Erwartungen ins Gegenteil verkehrt: es bestand die Gefahr, daß seine Christen das Judentum ganz oder teilweise übernahmen, also konvertierten oder Judenchristen wurden.
Luthers extremer Haß auf die jüdische Religionsgemeinschaft seiner Zeit gründet m.E. weniger in deren Ablehnung seiner Christuspredigt und schon gar nicht in politischer Bedrohung durch dieselbe, sondern in der ihn schockierenden Erfahrung, daß in der jüdischen Religion der evangelischen Konfession eine ernste Konkurrenz entstanden war. Christen hatten bereits jüdische Riten angenommen und wurden deshalb Sabbather genannt; Luther war das nur zu gut bekannt; er hatte schließlich 1538 zur Abwehr der jüdischen Propaganda in Mähren eine Schrift Wider die Sabbather an einen guten Freund[40] verfaßt und bereits 1542 eine jüdische Gegenschrift erhalten.[41] Luther hatte es also mit einer höchst lebendigen und offenbar deshalb vielen Christen zur Gestaltung ihrer Frömmigkeit beeindruckenden und nützlichen Religion zu tun. In seiner Schrift Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi, die Luther 1543 veröffentlichte, bestätigt er dies, wenn er im Vorwort schreibt: „Das wil ich hiemit also gethan haben, unserm glauben zu ehren und den Teuffels lügen der Jüden zu wider, Das auch die (sc. Christen; der Verf.), so Jüden werden wollen, sehen mügen, was sie fur schöne Artickel bei den verdampten Jüden gleuben und halten müssen.“[42]
Das dritte Argument Luthers gegen die Juden war rein demagogischer Natur. Die religiösen Juden raubten die Deutschen durch Wucher ökonomisch aus. Luthers Wucherkritik im allgemeinen ist bekannt; sie richtet sich nicht speziell gegen die religiösen Juden. Aber Luther hätte wissen müssen, daß das Wuchergeschäft den religiösen Juden von der vom Wucherverbot belasteten mittelalterlichen Gesellschaft aufgezwungen worden war und sie damit in eine soziale Falle geraten waren. Die Fürsten und Bischöfe, die die religiösen Juden als Schutzsklaven hielten, erpreßten bekanntlich horrende Schutzgelder aus diesen ihren Schützlingen; dadurch waren diese genötigt, u.a. vom städtischen Kleinhandwerk hohe Zinsen zu verlangen. Es entstand also der bekannte Teufelskreis.
Das Verbrechen an den religiösen Juden im Christentum des Westens bestand darin, daß die christliche Herrenschicht diese Menschen aus selbstsüchtigen Gründen in ein ökonomisches Himmelfahrtskommando preßten, das notwendigerweise den Haß der sog. Armen hervorrufen mußte und ihnen keinen Ausweg ließ. Diesen teuflischen Mechanismus hätte Luther erkennen müssen; statt dessen hat er sich wie andere Zeitgenossen seiner propagandistisch bedient, um den religiösen Gegner und Konkurrenten mundtot machen zu können.
Es muß jedoch gesagt werden, daß Luther den Wucher nicht allein den Juden angelastet und aufgerechnet hat. In seiner Schrift An die Pfarrherrn wider den Wucher zu predigen, Vermahnung aus dem Jahre 1540, also kurz vor der Judenschrift geschrieben, läßt er keinen Zweifel daran, daß „solch leyhen ist itzt gemeine, durch alle stende.“[43] Der Wucher war eine allgemeine soziale Erscheinung; und daß seine jüdischen Zeitgenossen dabei keine Rolle spielten, erkennt man daraus, daß Luther sie in dieser Schrift nicht erwähnt. Vielmehr attackiert Luther seine Christen: „Wolan las sie faren, und sihe du, pfarrher, …, das du dich yhrer sunde nicht teilhafftig machest, Lasset sie sterben wie die hunde, vnd den teuffel fressen mit leib vnd seele, Lasset sie nicht zum Sacrament, zur tauffe, noch zu einiger Christlichen gemeinschafft.“[44] Diese christlichen Wucherer gelten ihm nicht mehr als Menschen, sondern als Wehrwölfe, schlimmer als „alle tyrannen, morder vnd reuber schier so bose als der teufel selbs.“[45] Weil ein Wucherer ein solch entmenschtes Monstrum ist, soll man ihn auch entsprechend bestrafen: „Vnd so man, die strassen reuber morder oder bevheder, redert vnd kopfft, Wie viel solt man alle wucherer Redern vnd edern (= foltern). Vnd alle geitzigen helse veriagen, verfluchen kopffen, sonderlich, die so mut willige theurung stifften, wie itzt Adel vnd baur thün auffs aller mut willigst.“[46]
Die Tatsache, daß Luther sehr genau über den christlichen Wucher und seine verheerenden Folgen Bescheid wußte, zeigt seine Demagogie: denn er erwähnt den christlichen Wucher gerade in seiner Judenschrift mit keinem Wort und tut so, als ob die armen Deutschen nur unter dem jüdischen Wucher zu leiden gehabt hätten. Nach Luthers Beschreibung der Wuchers, der allen christlichen Ständen gemein war, konnte insgesamt gesehen der jüdische Wucher auch für den kleinen Mann nur von geringer Bedeutung gewesen sein.
Die andere Tatsache, daß Luther härteste Strafen für die Untaten der Wucherer forderte, die fast an Ausrottung grenzten, kann nicht darüber hinweg täuschen, daß solche Vorschläge mehr homiletisches Spielmaterial darstellten. Wer sollte denn schon, wenn der christliche Wucher in allen Ständen verbreitet war, ernsthaft gegen ihn einschreiten? Er war eine gesellschaftliche Notwendigkeit. Die Machthaber mußten ihn daher tolerieren, ja ihn, um ihre eigenen finanziellen Bedürfnisse zu befriedigen, fördern. Die Juden aber, als ausgrenzbare Minderheit verfügbar gehalten, hatten für die sozialen Folgen aufzukommen. Luthers bediente sich dieses eingespielten, automatisch wirksamen sozialen Mechanismus‘, der eine vorübergehende sozialpsychologische Lösung von ökonomischen Spannungen der christlichen Gesellschaft bringen sollte, als er die Wut der Wucheropfer auf die machtlosen Juden lenkte. Seine Attacke auf die jüdische Minderheit aktivierte also genau diese von der damaligen Gesellschaft den religionsgemeinschaftlichen Juden zugesprochene soziale Stabilisierungsfunktion, nicht aber um die religiösen Juden vom Wuchergeschäft abzuhalten, sondern um sie als religiöse Rivalen gleichsam mit unlauteren Mitteln auszuschalten.
Um die lästige Judenkonkurrenz loszuwerden, hat der kritische Exeget und Historiker Luther obendrein die alten anti-jüdischen Lügen, die in der katholischen Kirche verbreitet und zum Anlaß für Pogrome benutzt wurden, wie z.B. Kindermord, kolportiert und darauf verzichtet, eigenständige Recherchen anzustellen; die wüste Pamphletliteratur katholischer Autoren und konvertierter Juden, die er ansonsten verdammte und kritisierte, waren ihm zu diesem Zweck gerade recht. Auch hier hat Luther wider besseres Wissen gehandelt.
Halten wir fest: Luthers spezifische judenfeindliche Propaganda resultiert vermutlich in erster Linie aus der Angst, daß bei weiterer freier religiöser Betätigung der jüdischen Religionsgemeinschaft seine evangelische Christenschar dahin schmelzen könne: „Denn das ein iglicher fur sein person nicht gleubt omissive (= aus Nachlässigkeit) et privatim, das müssen wir jederman lassen auff sein gewissen, Aber öffentlichlich frei daher, in Kirchen und fur unseren nasen, augen und ohren solchen unglauben fur recht zu rhümen, zu singen, zu leren, zu verteidigen und den rechten Glauben zu lestern und zu fluchen, damit andere an sich ziehen und die unsern zu hindern, Das ist weit, weit ein anders.“[47] Luther spürte die Kraft der jüdischen Religion, die trotz ihrer Einschränkung, offenbar höchste Anziehungskraft besaß. In seiner Hilflosigkeit griff er auf traditionelle Mustervorschläge der anti-jüdischen Einschüchterungspropaganda zurück: 1. die Synagogen verbrennen, 2. den Juden all ihre heiligen Bücher (Betbücher, Talmud, Bibel) wegnehmen, 3. ihnen öffentliche Religionsausübung untersagen und 4. verbieten, den Namen Gottes vor den Ohren der Christen auszusprechen.[48] Ja, sie sollen aus dem Land gejagt werden und ihr Heimatland, Palästina, auswandern.[49] Jedoch: auch die lutherisch denkende weltliche Oberkeit hat die gutzahlenden religiösen Juden nicht aus dem Lande gejagt. Der Kredit und das Schutzgeld waren wie Luther selbst vermutete doch wichtiger als die Abwürgung von minoritärer Evangeliumsignoranz. Wie infam der um seine Kirchenmitglieder bangende Luther gegen die jüdische Alternative werden konnte, demonstriert die wahrhaft zynische Forderung, die Juden zu zwingen, Handwerk oder Ackerbau zu betreiben. Die Angst um den Erhalt der eigenen, erst noch auf schwachen Füßen stehenden Religionsgemeinschaft hat Luther zum Geschichtsfälscher und Büttel der Antisemiten werden lassen. Daß Luther sich an der allgemeinen Judenhetze seiner Zeit beteiligte, hat er noch vor dem Nürnberger Kriegsverbrechertribunal büßen müssen: durch die Demütigung, die der Journalist Julius Streicher ihm zufügte.
- Die Theologie Martin Luthers und ihr Beitrag zur Konzeption der Möglichkeit einer polymorphen Gesellschaft
Wenden wir uns nun der Frage zu, ob Martin Luthers Theologie nichts als eine Bestätigung der genannten religionspolitischen Optionen ist oder aber geistiges Potential enthält, das für die Konstitution einer polymorphen Kultur Wesentliches beträgt.
Luther vollzog mit der unerhörten Unterscheidung von öffentlicher Religionsunfreiheit und privater Unglaubensfreiheit einen radikalen Bruch mit der christlichen Tradition. Nunmehr sollte jedermann auf dieser Erde ungeahndet das Recht haben, aus Nachlässigkeit oder privatim ungläubig zu sein, im Innersten frei vom Zugriff weltlicher (einschl. sog. geistlicher) Macht. Dieses Recht hatten die Papisten den Juden, Heiden und Muslimen zwar zugestanden, aber daß es auch für die getauften Christen gelten sollte, war neu. In dem grausamen Zusammenhang seiner anti-jüdischen Hetze formulierte Luther die private Religionsausübung faktisch als ein allgemeines Menschenrecht und zerstörte damit die sich auf die Tauftreue berufende Inquisition der Christenmenschen. Und diese Entmachtung jeder Oberkeit, diese Aushöhlung der Herrschaft von Kirche und Staat über die Innere Welt der Christen hat Luther in seiner berühmten Schrift Von weltlicher Oberkeit, wieweit man ihr Gehorsam schuldig sei (1522; gedruckt 1523) zum ideologischen Programm erhoben. In dieser Schrift geht es nicht um die Unterwürfigkeit der Menschen unter den Staat, sondern gerade um radikale Beschneidung der Macht des Staats gegenüber der Glaubens- und Unglaubensfreiheit des einzelnen Menschen. Der Staat hat danach genauso wenig wie die Kirche das Recht, des Menschen Glauben oder Unglauben, d.h. seine Seele zu beherrschen: „Denn uber die seele kan und will Gott niemant lassen regirn denn sich selbs alleyne. Darumb wo welltlich gewallt (und dazu gehört auch das Kirchenregiment; der Verf.) sich vermisset, der seelen gesetz zu geben, do greyfft sie Gott ynn seyn regiment und verfuret und verderbet nur die seelen.“[50]
Der Unterschied zur traditionellen katholischen Theologie, die von Getauften auf Grund des unauflösbaren Taufversprechens die Unterwerfung ihrer Seele unter die Macht der Kirche legitimierte, besteht darin, daß solches Recht nicht nur irgendwelchen ungetauften, d.h. nichtchristlichen Minderheiten zugestanden wird, sondern allen Menschen und damit auch allen Christen. Ob man Gottes unbedingte Liebe glaubt oder nicht, das geht weder Papst noch Kaiser etwas an.
Halten wir fest: Wenn Menschen nicht glauben, daß Gott seinen Sohn für sie dahin gegeben hat, sondern statt dessen viele andere Dinge glauben, d.h. auch der Unglaube an Christus geht die weltliche Oberkeit nichts an. Glaubensfreiheit ist für Luther stets auch Unglaubensfreiheit. Versucht die Oberkeit dem Gewissen Glauben aufzuzwingen, dann stürzt sie die Menschen ins Unheil. Die Nichtchristen im strikten Sinne – und dazu zählt Martin Luther auch die Masse seiner getauften Deutschen – schützt er somit in ihrem Innersten vor dem Zugriff der Oberkeit, vor organisierter Religion, vor elterlicher Autorität, vor geheimen Verführern, vor allen, die über Macht verfügen. Ob nun die Muslime, Juden, Tartaren, Atheisten der Christuspredigt glauben oder nicht: das geht den Staat nichts an. Obwohl die Christuspredigt Luther das Allerheiligste ist, es nichts Höheres im Himmel und auf Erden gibt, und er daher alle Religionen, die die Christuspredigt verwerfen, heftigst attackiert, schützt er wie kein zweiter die absolute Freiheit jeder einzelnen Seele, der Christuspredigt zu glauben oder nicht.
Damit die Laienherren und Kirchenführer diese Freiheit des Glaubens- und Unglaubens auch begreifen, schreibt er ihnen in die folgenden Worte ins Stammbuch: „Das wollen wyr so klar machen, das mans greyffen solle, auff das unser iuncker, die fursten und bischoffe sehen, was sie fur narren sind, wenn sie die leutt mit yhren gesetzen und gepotten zwingen wollen, sonst oder so zu glewben.“[51] Die Oberkeit darf keine Gewalt über die Seele ausüben, weil sie die Seele nicht beurteilen kann. „Nu sage myr, wie kann die hertzen sehen, erkennen, richten, urteylen und endern eyn mensch? Denn solchs ist alleyn Gott fur behallten.“[52] Wenn aber die katholische Kirche schon gelehrt hat: de occultis non iudicat ecclesia – über das Verborgene richtet die Kirche nicht,[53] „Wes untersteht sich denn die unsynnige welltliche gewallt, solch heymlich, geystlich, verporgen ding, als der glawb ist, zu richten und zu meystern?“[54] Aber Luther nennt noch ein anderes Argument: „Auch ßo ligt eym ieglichen seyne eygen fahr ( = Gefahr) dran, wie er glewbt, und muß fur sich selb sehen, das er recht glewbe. Denn so wenig als eyn ander fur mich ynn die helle odder hymel faren kann, so wenig kann er auch fur mich glewben oder nicht glewben, und so wenig er myr kann hymel oder hell auff odder zu schliessen, so wenig kann er mich zum glawben oder unglawben treyben.“[55] Das aber heißt, daß Glaube und Unglaube das religiös absolut selbstverantwortliche Individuum, das sein Existenzrisiko mit niemandem teilt, voraussetzt.
Luther läßt keinen Zweifel daran, daß dieser zum Existenzrisiko geborene Mensch jedweder Religion, Kultur, Rasse oder sonstiger Eigenart gegenüber aller weltlichen Macht durch und im Blick auf die Glaubens- und Unglaubensmöglichkeit radikal frei ist! Niemand kann noch darf den Einzelnen in religiösen Dingen vertreten noch treiben. Organisierte Religionen haben kein Recht, dem Einzelnen in seine religiösen Angelegenheiten hineinzureden. Luther verteidigt diese innere Religionsfreiheit des Individuums als geradezu alltägliche Selbstverständlichkeit, wenn er sagt: „Denn war ist das sprichwort: Gedencken sind zoll frey.“[56] Die religiöse Macht der Anderen über den Einen ist glaubensfeindlich; denn zum Glauben benötigt der Eine prinzipiell und gezwungenermaßen das innere Selbstbestimmungsrecht.
Wenn es also der Oberkeit nicht obliegt, die innere Religion zu bestimmen, so ist es doch ihre Sache, abgesehen von allen anderen weltlichen Belangen, die öffentliche Religion zu organisieren. Diese Aufgabe weltlicher Oberkeit, also der Institutionen, die die Bedürfnisse der Menschen miteinander vergleichen, besteht aber sehr wohl darin, dafür zu sorgen, daß diese Menschen, und da ist kein Unterschied nach Religion, Rasse oder Sprache bei Luther zu erkennen, zum rechten Handeln motiviert (Religion) und angeleitet (Politik) werden. Öffentliche Religion dient also zum Erhalt einer sich vergleichenden Gesellschaft.
Diese äußere Religion kann und darf die Oberkeit aber nur mit dem Mittel gestalten, das sie zu Erfüllung ihrer Aufgaben von Gott erhalten hat: mittels der Vernunft. Deshalb muß auch ein Fürst so sehr das Recht in seiner Hand haben wie das Schwert und mit eigener Vernunft abwägen, wo und wann das Recht streng angewendet werden muß oder gemildert, so daß auf diese Weise die Vernunft über alles Recht regieren, dem Recht übergeordnet bleiben und das Recht bestimmen kann: „Darumb muß eyn furst das recht ja so fast ynn seyner hand haben als das schwerd unnd mitt eygener vernunfft messen, wenn unnd wo das recht der strenge nach zu brauchen odder zu lindern sey, Also das alltzeyt uber alles recht regiere unnd das uberst recht unnd meyster alles rechten bleybe die vernunfft.“[57]
Damit sind auch alle Entscheidungen in äußeren Religionssachen von der Oberkeit nach den Kriterien der Vernunft, d.h. dem Prinzip des sozialen Verträglichkeit, zu treffen. Luther meint hier einzig und allein die menschliche Klugheit. Ein Fürst erhält zur Gestaltung seiner Politik keine direkten Befehle Gottes, erlebt auch keine göttlichen Offenbarungen und kann sich nicht auf von theologischen Autoritäten vorgebene Richtlinien, wie sie der dictatus papae Gregors VII. den Fürsten zu geben sollen meinte, stützen.
Wenn nun aber eine Oberkeit nicht über die gebührende politische Klugheit verfügt und sie sich nicht auf juristische Berater oder Rechtsbücher verlassen, wird plötzlich die ungeheure Unsicherheit und Bedrohtheit des Fürstenstands zu Tage: „Darumb hab ich gesagt, das fursten stand eyn ferlich standt ist.“[58] Der Fürst ist in politischen Dingen allein auf sich gestellt – so wie der Mensch in Glaubensdingen. Die Kirche als Kirche kann der Oberkeit keine letztgültigen politischen Entscheidungen abnehmen – genauso wenig wie sie authoritativ dem Einzelnen den Glauben vorschreiben darf. Ein inkompetenter Fürst ist daher auch eine große Gefahr für die Untertanen. Was aber soll ein unsicherer Fürst tun? Er kann und soll sich, wenn er nicht weiß, wie er sich entscheiden soll, wenn er sich weder auf Bücher noch Räte verlassen kann, wohl an Gott wenden und ihn anrufen. Aber worum soll er bitten? Um einen religionspolitischen Vorschlag, um einen Befehl, wie mit Juden und Muslimen umzugehen sei? Nicht dieses soll er tun, „sondernn sich bloß an Gott hallten, yhm ynn den oren ligen unnd bitten umb rechten verstandt uber alle bücher und meyster, seyn unterthan weyßlich zu regirn.“[59]
Im fundamentalen Gegensatz zur herkömmlichen Kirchendoktrin kann der Cheftheologe eines protestantischen Fürsten diesem seinem Herrn „keyn recht eym fursten fur zuschreyben“; er „will nur seyn (des Fürsten; der Verf.) hertz unterrichten, wie das soll gesynnet und geschickt seyn ynn allen rechten, rethen (Ratschlägen; der Verf.), urteylen und hendeln.“[60] Aber Luther lehnt nicht nur den klerikalen Machtanspruch des dictatus papae Gregors VII. ab. Seinem Adressaten, Herzog Johann von Sachsen (1468-1532), Bruder des Kurfürsten Friedrichs des Weisen, sagt er unmißverständlich, daß, wenn er, der Herzog, in fürstlicher Not seinen Gott um Hilfe anrufe, dieser ihm nicht ein göttliches Gesetz und Gebot verkünde, sondern dann „wirtt yhm Gott gewißlich geben, das er alle recht, rethe und hendel wol und gottlich außrichten kann.“[61]
Die Unterwerfung der Oberkeit unter die weltliche Klugheit und die gemeine Vernunft, d.h. auf die politische und allgemeine Erfahrung, befreit sie von der Durchsetzung einer realitätsfernen, als unveränderlich gedachten Gesellschafts-, Kultur- und Religionsform: Der Fürst „nehme sich an der notturfft seyner unterthanen und handele darynnen, als were es seyn eygen notturfft.“[62] Die realen Bedürfnisse der jeweiligen Menschen sind also der Horizont der weltlichen Vernunft, damit das Kriterium weltlicher Oberkeit und so zugleich das Kriterium der Religionspolitik. Wenn es demnach der Oberkeit vernünftig erscheint, weil es den Bedürfnissen ihrer Untertanen entspricht, öffentliche Religionsausübung zu demonopolisieren, was ja zu Luthers Zeiten und zu seinem Ärger ganz offenbar für Juden bereits der Fall war, kann er solchem Handeln im Grundsatz nicht widersprechen.
Die Beseitigung des inquisitorischen Zugriffs auf die Glaubens- bzw. Unglaubensfreiheit der Mehrheitsbevölkerung und die Befreiung des Staats von der Kirche, hat der Oberkeit, um in einer gegebenen Situation angemessen ihren Zweck, das weltlich Gute zu befördern und dem weltlich Bösen zu wehren, grundsätzlich die legitime Möglichkeit erschlossen, öffentliche Religionsausübung auch multikulturell zu organisieren. Die Oberkeit in der Zeit der Reformation hat solches lutherisches Recht nicht nur als Ausnahmeregelung, als Privileg, den Juden gegenüber praktiziert, sondern als normales Recht. Der katholische Kaiser hat, was oft übersehen wird, auf Grund des Willens des Augsburger Reichstags 1555 die multireligiöse Verfassung Deutschlands prinzipiell beschlossen und praktisch topographisch festgeschrieben. Indem die weltliche Oberkeit, d.h. Kaiser und Reichsstände, kraft eigenen Rechts, d.h. in Wahrheit neuen, von Luther ihr freigekämpften Rechts, nach eigener Einsicht und Vernunft, orientiert an den neuen Bedürfnissen in der Teutschen Nation, die multireligiöse Verfassung Deutschlands unter dem Rechtstitel der Religionsparteien zum Gesetz erhob, war die öffentliche Religionsausübung einem unantastbaren Sakralrecht entzogen und zum kalkulierbaren Gegenstand konkreter Staatspolitik geworden. Daß Kaiser, Kurfürsten, Fürsten und Stände die öffentliche Religionsausübung für die Protestanten wider alles kanonisches Kirchenrecht erlaubten, lag daran, daß der dictatus papae Gregors VII. nicht mehr galt, sondern Luthers Prinzip der politischen Vernunft. Und diese grundsätzliche politische Umorientierung macht denn den Reichsabschied erklärlich: „Dieweil auf allen, von dreißig und mehr Jahren gehaltenen Reichstagen … von einem gemeinen … Frieden zwischen des hl. Reichs Ständen der strittigen Religion halben aufzurichten, vielfältig gehandelt, geratschlagt und etlich mal Friedstände aufgerichtet worden, welche aber zur Erhaltung des Friedens niemals genug gewesen, sondern deren unangesehen die Stände des Reichs für und für in Widerwillen und Mißtrauen gegen einander stehen geblieben, (kommt der schreibende König Ferdinand zu folgendem Schluß:) Solche nachdenkliche Unsicherheit aufzuheben, der Stände und Untertanen Gemüter wiederum in Ruhe und Vertrauen gegen einander zu stellen, die Teutsche Nation, unser geliebt Vaterland vor endlicher Zertrennung und Untergang zu verhüten, haben wir uns mit Kurfürsten, Fürsten und Ständen und sie hinwieder sich mit uns vereinigt und verglichen.“[63] Und wessen haben sich König und Reichsstände verglichen? Sie haben die gemeine Vernunft walten lassen, indem sie den neuen Bedürfnissen der Protestanten und ihrer Anhänger durch die revolutionäre Anerkennung ihrer Augsburgischen Konfession Rechnung trugen. Diese Entscheidung haben die Fürsten treffen können, weil sie Luthers Oberkeitslehre als allgemeine Norm praktizierten. Und genau diese Norm der gemeinen Vernunft, die auf Interessenausgleich gleichberechtigter Subjekte orientiert ist, sich zum Frieden vergleicht, schuf die bireligiöse Gesellschaft Deutschlands, die den Anfang einer multireligiösen Gesellschaft in Europa darstellt.
Wenn denn also der Staat, die Oberkeit, unter anderen Umständen um des lieben gesellschaftlichen Friedens willen das Recht auf allgemeine öffentliche Religionsausübung beschlösse und dieses nicht mehr auf Katholiken und Anhänger der Augsburgischen Konfession allein beschränkte, wäre dies ihr göttlich verbrieftes Recht. Und so geschah es denn auch: die französische Revolutions-Oberkeit ist so verfahren. Die Propagierung der Freiheit der inneren religiösen Welt und die Säkularisierung der äußeren religiösen Welt sind die geistigen Haupttriebkräfte für die Grundlegung einer Staatstheorie, die sowohl die Idee einer multikulturellen und gerade auch die multireligiösen Gesellschaft möglich machen konnte. Es ist der Nationalismus des 19. und 20. Jahrhunderts, der die vorher ungewöhnliche Idee einer monokulturellen Gesellschaft und auf Grund deren Widersinnigkeit in ideologischer Konsequenz einen dezisionistischen Rassismus propagierte. Vorher war multikulturelle Existenz und auch multireligiöse Existenz prinzipiell kein Problem; zur Absicherung des gesellschaftlichen Friedens waren sie nur topographisch oder kommunitär organisiert.
Heute sind solche Friedenslösungen obsolet geworden. Religion und Kultur lassen sich in unserer Gesellschaft nicht mehr topographisch oder kommunitär organisieren; ihr Ort ist der jeweils Einzelne selbst. Ihm obliegt die cura religionis, die Religionsoberkeit. Der Staat täte gut daran, endlich die öffentliche Religionsausübung jedem Einzelnen zu gewährleisten, ja aktiv zu unterstützen und allen Anschlägen auf individuelle Religionsfreiheit das Handwerk zu legen. Diese individuelle Religionsfreiheit ist kein Luxusgut der Gesellschaft, sondern bitterste Notwendigkeit. Sie sichert ein Minimum an individueller Stabilität in den unumgänglichen und rasanten und Umbrüchen des sozialen Lebens.
Luther hat aus Angst vor der Konsequenz seiner eigenen revolutionären Ideen den Juden ideologisch das Recht auf Ausübung öffentlicher Religion abgesprochen. Seine Oberkeit hat sich davon aber in ihrer Politik nicht beeindrucken und zum Diener einer verängstigten Kirche machen lassen. Statt dessen hat sie sich zur Regulierung dieser Fragen der Mittel bedient, die ihr Luther theologisch zugewiesen hatte, nämlich besonnener staatstragender Vernunft. Als Kirchenmann war Luther reaktionär, als Weltmann dagegen revolutionär. Der Kirchenmann pochte auf den Erhalt kirchlichen Besitzstandes und scheute das Eingehen auf die neuen Lebensbedingungen, der Weltmann dagegen lieferte der religiösen Emanzipation der Moderne die schärfsten Waffen. Diese Tradition des Widerspruchs von frommen Sonntagsreden und verschreckten Werktagsdenunziationen hat sich bis heute erhalten.
Aktueller Exkurs
Wenn wir all dies bedenken, was da an interreligiöser Angst aus der Zeit der Reformation zu uns herüber schallt, und gerade wenn wir uns daran erinnern, was eine vom Christentum geprägte Kultur in diesem Jahrhundert an Unkultur zu Wege gebracht hat, dann stellt sich die Frage, was heute geschähe, wenn eine Massenkonversion zur jüdischen Religion einsetzte? Ob wir dann anders als Luther und seine Zeitgenossen reagieren würden? Ist nicht die manchmal komisch anmutende interreligiöse Distanzkultur mehr ein Zeichen für argwöhnisches Beäugen? Signalisiert nicht die Polemik gegen Synkretismus, interreligiöses Gebet und Öffnung der eigenen Gotteshäuser, Synagogen, Tempel und Moscheen für andere Religionsgemeinschaften, das Beharren auf einseitigen staatlichen Privilegien und der Schrei nach staatlicher Religionsinquisition, daß uns die Angst Luthers und seiner Zeitgenossen vor dem religiös Anderen noch im Nacken sitzt, daß wir es eher zulassen, daß die Leute zu Atheisten werden als daß sie sich ihre eigne Religionskultur schaffen?
Wenn wir uns diese Ansichten Luthers über andere Religionen vor Augen führen, dann möchte man fast meinen, er könne mit seiner Theologie zur multireligiösen Frage nur negative Argumente liefern, d.h. die herrschende Praxis unter den Religionen heute nur bestätigen. Luthers Theologie wäre dann höchst zeitgemäß. Luthers Theologie hat jedoch Grundgedanken zur Sprache gebracht hat, die in ihrer geschichtlichen Konsequenz seine zeitbezogene Religionspolitik weit hinter sich gelassen hat. Ganz im Gegensatz zur Geist-Ideologie der Schwärmer, insb. Thomas Müntzers, deren Grundidee und Praxis sich durchgehalten hat und in dem nunmehr ausgehenden 20. Jahrhundert in Form von säkularen Reichs- oder Reich-Gottes-Ideologien neu Gestalt annimmt, die wissen, wie diese Welt zu gestalten sei, die die Welt in Gerechte und Ungerechte, in Lebenswerte und Lebensunwerte, in Fundamentalisten und Liberale, in Menschen und Unmenschen usw. aufzuteilen, und die sich berechtigt fühlen und alles dransetzen, das Reich oder das Reich-Gottes auf dieser Erde zu verwirklichen. Diese Ideologien geben im scharfen Gegensatz zu Martin Luther der Oberkeit alle Macht, damit sie ihre irdischen Phantasiegebilde durchsetze: gegen das Herz und den Leib des Einzelnen.
Dogmatische Grundlagen der Religionspolitik Martin Luthers
Um die theologischen Grundideen Martin Luthers, denen er selber in seinen religionspolitischen Äußerungen oft nicht gerecht wurde, in Blick auf eine multireligiöse Gesellschaft besser zu verstehen, ist es nötig, auch auf seine Theologie im eigentlichen Sinne zu sprechen zu kommen. Damit sollen zugleich die hier vorgelegten Thesen noch einmal zusammenfaßt werden.
Martin Luther definiert die Aufgabe der Theologie grundsätzlich neu. Sie hat es unmittelbar nicht mit Gott, Welt und Mensch zu tun; sondern mit einer völligen anderen Gegenstandsgenus: der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium. Luthers entscheidende theologische Erkenntnis bestand darin, daß zwischen Moses und Christus kein gradueller, sondern ein fundamentaler Unterschied besteht. Als katholischer Theologe nahm er an, daß Christus nur ein besseres Gesetz verkündet habe. Aber dann entdeckte er, daß Christus das Evangelium gebracht hat, daß er einen Willen Gottes verkündete, der das Liebesverhältnis Gottes zu seinen Geschöpfen nicht an das Gesetz Gottes bindet. Sub specie salutatis erkannte Luther, daß also diese bereits geschehene Liebe Gottes dem Menschen nur in der Wahrnehmungsweise des Glaubens bewußt werden kann und folglich der Versuch, sie durch Werke zu erwirken oder ihre Wirksamkeit durch Menschenliebe zu beweisen völlig widersinnig ist.
Diese Unterscheidung durchzuhalten ist Aufgabe der Theologie. Und wer deshalb diese Unterscheidung beseitigte oder verdeckte, betrieb Theologie des Unglaubens oder Anti-Theologie. Dies aber mußte für Luther die ärgste Sünde sein, weil sie den Menschen die Möglichkeit raubte, sein Leben und Sterben als umsonst zu verstehen. Deshalb war Luthers Urteil über Katholiken und Schwärmer so hart: sie gaben vor Evangelium zu predigen, aber predigten nichts anderes als Werkgerechtigkeit. Den Juden hielt er vor, es besser wissen zu können. Und den Türken sah er’s ein wenig nach.
Wenn also nach Luther das Evangelium bedeutet, daß das Heil umsonst allen Menschen geben ist, dann erhebt sich die Frage nach der Bedeutung des Gesetzes. Das Gesetz hat die Aufgabe, den Menschen anzuleiten, diese seine irdische Existenz in freier Liebe zu Gott und den Menschen zu gestalten. Das aber setzt voraus, daß der Mensch in seinem Grunde bereits vollkommen ist, also die Vollkommenheit seiner Existenz nicht erst noch erwirtschaften muß. Das Gesetz ist also nicht das Mittel zum Erwerb der Gottesgunst, sondern das Mittel, Gott und den Menschen seine Gunst zu beweisen. Und dieses Gunsterweisen unter Anleitung des Gesetzes nennt Luther freie Liebe, ist das freie Werk. Doch wer entscheidet nach Martin Luther über das jeweils rechte Werk, das die freie Liebe verwirklicht? Das ist die weltliche Gretchenfrage jeder Religion. Ist das eine Hierarchie, die sich auf religiöse Texte beruft und apostolische Sukzession? Sind es Synoden oder geistbegabte Versammlungen, sind es Gurus und Sants, Bodhisattvas und Mullas, Rabbinen und andere sich übernatürlicher Autorität gewisser Institutionen und Personen? Nein, es ist die Oberkeit. Und welches Mittel hat sie das rechte und damit auch das böse Werk zu erkennen und die Menschen dazu zu bewegen das gute Werk zu tun und das böse Werk zu lassen? Sie hat nur ihre eigene weltliche Klugheit und Weisheit (Vernunft) und das irdische Mittel irdisch zu belohnen und irdisch zu bestrafen (Schwert).
Es ist Sache der allgemeinen, für alle Menschen zuständige Oberkeit die Religionsausübung, die die Existenzgrundlage sichert, zu pflegen und die dadurch möglich werdende Verwirklichung des menschlichen Gemeinschaftslebens zu organisieren. Die Fernwirkung von Luthers Unterscheidung von Gesetz und Evangelium, seiner diakritischen Theologie, besteht darin, daß dem weltlichen Bereich der Menschenwelt der ungeheure Druck des Gottesgerichts genommen wurde. Es steht Religion, Politik und Ökonomie, den ritus humani, nicht mehr an, daß in und mit ihnen je und je die ganze Existenz auf dem Spiel steht, daß je und je Gericht oder das Gegenteil sich ereignet. Religion, Politik oder Ökonomie vermögen die Wahrheit menschlicher Existenz nicht begründen.
Wenn also dem so ist, daß Werke der Religion, der Politik und Ökonomie nicht mehr zur Rechtfertigung benötigt werden, wenn also auch keine Hierarchen mehr im Namen Gottes diese oder jene Handlung verfluchen oder mit dem Schein der Heiligkeit umkleiden können, dann werden alle religiösen, politischen und ökonomischen Modelle zu bloßen der Vernunft unterworfenen historischen Erzeugungs-, Erhaltungs- und Sterbemittel. Dann ist immer grundsätzlich und ganz praktisch zu fragen, zu überprüfen und erst dann zu entscheiden, ob islamische, christliche, buddhistische, esoterische, atheistische, synkretistische, neureligiöse, naturreligiöse, hinduistische, existenzialistische Varianten der ritus humani, d.h. unterschiedliche religiöse Auslegungen des Gesetzes, wirksame Existenzmotivation schaffen und ob diese oder jene Spielart der Politik und Ökonomie allgemein vertretbare Wege zur Verwirklichung des allen Menschen Existenz ermöglichenden Gesetzes weisen.
Martin Luther hat in der 39. These zur Zirkulardisputation über Matth. 19, 21 vom 9.5.1539 diese universale Weltlichkeitstheologie präzis formuliert, indem er der Oberkeit grundsätzlich unterstellte, allen Staatsbürgern Frieden zu gebieten, sie also in gleicher Weise zu politischer Verantwortung heran zu ziehen: welcher Religionsgemeinschaft sie sich auch immer zurechnen mögen: „Summa, die Oberkeit sey wie sie wölle, gebeut sie doch jede zeit, und allenthalben das under den underthanen, ungeachtet welcher Religion sie seind, das fried gehalten werde.“[64] Deshalb ist auch jegliche Oberkeit, sei sie nun „ongleubig, oder des Glaubens feind“, was die weltlichen Belange der Zweiten Tafel der Zehn Gebote angeht, „nit wider uns (sc. Christen; der Verf.) sonder mit uns unnd für uns.[65] Weil alle Oberkeiten, sie seien nun islamisch oder christlich, „die von Gott angeordnete Weltliche Regiment“ inne hat, haben auch alle Untertanen, sie seien christlich oder nicht, ihrerseits jedweder Oberkeit denselben weltlichen Gehorsam zu leisten, gibt es doch – so schiebt Luther ein Erfahrungsargument nach – zu ihr keine Alternative.[66] Diese allgemein verpflichtende weltliche Verantwortlichkeit ist allen Menschen, nicht nur den Nichtchristen, sondern gerade auch den Christen auferlegt: diese sind außerhalb der Religion, des Christusbekenntnisses, ohne Einschränkung und mit allen Konsequenzen „Burger dieser Welt,“ Weltbürger.[67]
Nach diesen seinen staatstheologischen Prinzipien wird Luther als Weltbürger einen Juden als Herren und einen Muslim als Mitbürger anerkennen müssen; er wird darüberhinaus dem Einzelnen die äußere Freiheit der Religionsausübung und der politischen und ökonomischen Selbstbestimmung lassen, wenn es denn das an den Bedürfnissen der Menschen zu orientierende Zusammenleben fördert.
III. Schlußbemerkungen
Luther hing an der alten Zeit, aber in Wahrheit gehörte er ihr schon nicht mehr an. Er träumte vom Ackerbau, doch konnte dieser ihn nicht mehr ernähren. Er erschauerte vor den Türken, und dennoch bewunderte er ihre Tugend und nannte sie Diener Gottes. Er verdammte die Juden, aber er verdankte ihrem Volk alles. Er hetzte gegen die Juden, und trotzdem durchschaute und tadelte er die Erbärmlichkeit der Hetze gegen die Muslime.
Dnnoch: als er die Herrschaft der Hierarchie und der Geistbesessenen über die Seelen und Körper der Menschen theologisch brach, der Welt ihre eigene weltliche Oberkeit zurück gab, dieser aber den Zugriff auf die Seele verbot, und ihr nur die gemeine Klugheit als Handlungsrichtschnur und die Bedürfnisse der Untertanen als Aufgabe überließ, setzte er – zum Teil gegen seinen Willen – einen Befreiungsprozeß in Gang, unter dessen Fernwirkung wir es als selbstverständlich ansehen können, daß in einer evangelischen Kirche zusammen mit Ketzern, Rechtgläubigen und Gottlosen kontrovers über Gott und die Welt, über eine gemeinsame multikulturelle und multireligiöse Gesellschaft zu streiten, ohne daß deswegen eine Inquisition die Menschen in ihrer Seele ängstigt und im Verein mit der Oberkeit peinlich am Leibe straft.
Eine multikulturelle oder multireligiöse Gesellschaft ist für Luthers Theologie kein theologisches Problem; daß sie für ihn persönlich fast undenkbar war, dieses Denken teilte er mit seinen Zeitgenossen. Luthers theologische Lehre vom Primat der gemeinen Vernunft zur Vergleichung der Bedürfnisse der Untertanen bleibend den Grund für unsere Chancen zum Ausbau einer polymorphen Kultur gelegt.
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Redaktionelle Anmerkungen: Dem Artikel liegt ein Vortrag zu Grunde, der 1996 im Rahmen eines interreligiösen Symposions zum 450. Todestag Martin Luthers in der Katharinenkirche zu Frankfurt am Main gehalten wurde. – Der Text wurde im Juni 2000 leicht verbessert.
[1] D. Martin Luthers Werke, Weimar 1883 ff. Band [=WA] I, 535; vgl. Günther Vogler: Luthers Geschichtsauffassung im Spiegel seines Türkenbildes. In: 450 Jahre Reformation, 1967, 120
[2] Heerpredigt wider den Türken, 1519, WA 30 II, 180
[3] WA 30 II, 173
[4] WA 30 II, 176 f.
[5] WA 30 II, 173
[6] WA 30 II, 173
[7] WA 30 II, 173 f.
[8] WA 30 II, 174
[9] WA 30 II, 191
[10] Verlegung des Alcoran Bruder Richardi, 1542, WA 53, 394
[11] WA 53, 395
[12] Wider das Papsttum zu Rom, vom Teufel gestiftet, 1545, WA 54, 195 ff.
[13] WA Tischreden 5,5536
[14] WA 30 II 122; vgl. Rudolf Mau: Luthers Stellung zu den Türken. In: Leben und Werk Martin Luthers von 1526 bis 1546. Festgabe zum 500. Geburtstag. Hrsg. von Helmar Junghans Bd. I, Göttingen 1983, 652
[15] WA Tischreden 5, 5536
[16] WA Tischreden 5, 5536
[17] WA 30 II, 121
[18] WA 30 II, 121
[19] WA Tischreden 5, 5536
[20] WA Tischreden 4, 5079
[21] WA 30 II, 123
[22] WA 30 II, 127
[23] WA 30 II, 127
[24] WA 30 II, 187
[25] WA 30 II, 189 f.
[26] WA 30 II, 186
[27] WA 30 II, 187
[28] WA 30 II, 195 f.
[29] WA 30 II, 126
[30] WA 30 II, 126
[31] Von den Juden und ihren Lügen, in: WA 53
[32] Göran Larsson: Fakten oder Fälschung? Die Protokolle der Weisen von Zion, Jerusalem 1995, 65 f.
[33] Larsson 65 f.
[34] Larsson 66
[35] Luther, Israel und die Juden. Befangen in der mittelalterlichen Tradition. In: Martin Luther heute. Themenheft 3, Bundeszentrale f. pol. Bildung. 1983, 69
[36] vgl. Oberman, 69
[37] WA 11, 315
[38] WA 53, 417
[39] Leonore Siegele-Wenschkewitz: Josel von Rosheim: Juden und Christen im Zeitalter der Reformation. Kirche und Israel. Neukirchener Theologische Zeitschrift 6. Jg. 1991, 7
[40] WA 50
[41] WA 53, 412
[42] WA 53, 579
[43] WA 51, 334
[44] WA 51, 421 f.
[45] WA 51, 421
[46] WA 51, 421
[47] WA 53, 531 f.
[48] WA 53, 537
[49] WA 53, 537 f.
[50] WA 11, 262
[51] WA 11, 262
[52] WA 11, 263
[53] CIC Decr. Grat. IX, lib. 5, tit. 3, cap. 34
[54] WA 11, 264
[55] WA 11, 264
[56] WA 11, 264
[57] WA 11, 272
[58] WA 11, 272
[59] WA 11, 272 f.
[60] WA 11, 273
[61] WA 11, 273
[62] WA 11, 273
[63] Geschichte in Quellen: Renaissance, Glaubenskämpfe, Absolutismus. Hrsg. von Fritz Dickmann, München 1976, 204.
[64] WA 39 II 47; vgl. lat. Text WA 39 II, 47
[65] 38. These, WA 39 II 47
[66] 40. u. 46. These, WA 39 II 47
[67] 36. u. 40. These, WA 39 II 46
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